Das Lied der Eibe. Duke Meyer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Das Lied der Eibe - Duke Meyer страница 8
Ehwaz symbolisiert die wilde Herde deiner animalischen Triebe. Sie sind schreckhaft und, wenn sie erst einmal lostoben, kaum mehr aufzuhalten. Mannaz steht für das soziale Miteinander, deinen Platz in der Gemeinschaft, und die Regeln, die sie sich gibt, denen sie folgt und die sie bedarfsweise verändert. Die Synthese aus beidem füllt Bücher bergeweise, aber kaum wer hält sie für möglich: Wir kennen das so gut wie gar nicht in der Praxis. Das hat mit Geschichte zu tun, mit Religionseinflüssen und -auswirkungen, mit sozialen Entwicklungen. Dennoch hängen beide Phänomene zusammen, sind und bleiben aufeinander angewiesen. Das weitgehende bis versucht vollständige Unterdrücken von Trieben ist möglich, hat aber einen hohen Preis. Zügelloses Sichgehenlassen auch. Ersteres schafft unfrohe Gesellschaften voller Zwang, Letzteres gar keine: Es verhindert jegliche. Zusammenleben und miteinander auskommen ist aber nötig. Über das jeweilige Maß – wem was gestattet ist und was nicht und wann, warum und wie – können vielleicht wirklich nur Kompromisse erzielt werden. Eine ideale Gesellschaft gibt es wahrscheinlich nicht. Aber bessere und schlechtere gibt‘s. Nichts davon ist statisch. Gesellschaften verändern sich – immer und laufend. Daran mitzuwirken, ist das Bestreben aller Beteiligten und Betroffenen. Wer das nicht tut, hat es vielleicht aufgegeben oder nie eine Chance gesehen, die eigenen Interessen einzubringen. Nichtsdestotrotz existieren sie und ihre Unterdrückung hat Folgen. Die Zivilisiertheit einer Gesellschaft lässt sich daran messen, wie wenig Gewalt zu ihrem Erhalt und ihrer Weiterentwicklung aufgewendet wird (je weniger Gewalt ausgeübt werden muss, umso zivilisierter ist das Gemeinwesen) und welchen Einfluss auf diese Gewalt die von ihr Betroffenen nehmen können (je größer und breiter gestreut dieser Einfluss ist, desto demokratischer, hierarchieflacher und gerechter geht es in der betreffenden Gesellschaft zu).
Laguz bedeutet sowohl „Lauch“ als auch „fließendes Wasser“: Pflanzliche Nahrung und Süßwasser sind zweifellos Lebensgrundlagen, ohne die gar nichts geht. Inguz, das Ei, verweist darauf, dass zumindest das Gemüse sich fortpflanzen muss, kann und darf, damit es auch morgen noch etwas zu essen gibt. Die Rune symbolisiert das Lebensprinzip der Fortpflanzung und die Wunder der Genetik. Von beiden Runen lässt sich eine Menge ableiten, was an dieser Stelle noch kein Anstoß für Debatten zu sein braucht.
Die Reihenfolge der letzten beiden Runen ist strittig: Auf den wenigen historischen Funden, die ein vollständiges Älteres Futhark zeigen, steht manchmal Othala, manchmal Dagaz am Ende. Im zeitgenössischen Gebrauch hat sich Othala als Endrune durchgesetzt. Ich bevorzuge inzwischen Dagaz – richtig darf beides genannt werden.
Othala ist sowohl Verwurzelung im Sinne einer „Heimfindung“ als auch Bewusstsein dafür, welcher Weg dich an diesen Ort gebracht hat und welche Ereignisse dich dabei prägten. Dagaz symbolisiert den ewigen Wandel: die größte universale Konstante überhaupt. Auch das trauteste Heim, der vollendetste Weg, die tiefste und hartnäckigste Wurzel fällt irgendwann wieder der Vergänglichkeit anheim, um abermals etwas Neues entstehen zu lassen! So schließt sich der Kreis und erlangt erst darüber seine Dauerhaftigkeit (wie so vieles Natürliche ist auch dies in Wirklichkeit eine Spirale…). Wege mögen enden, aber was auch immer vergeht, schafft nur Platz für Weiteres. Das ist Ewigkeit: dieses gewaltige Kreiseln in stetiger Weiterbewegung. Nicht eine Strecke von A nach B und das Verharren an einem Endpunkt. So gern wir das oft hätten. Die Welt ist größer als unser Wille. Auch er – und gerade er – wird aber erst durch ihre Größe und Wunder ermöglicht. Glück – über die persönliche Zufriedenheit hinaus (vielleicht ist das die Weisheit, die ich meine) – ist, wie ich‘s bis jetzt übersehe oder erahne, eine Mischung aus Macht, der Entfaltung meiner persönlichen Möglichkeiten und der Einsicht um ihre Grenzen. Das ist kein „Mittelweg“, im Gegenteil. Denn mit „Grenzen“ meine ich nicht die menschengemachten, sondern die kosmischen. Ihnen beuge ich mich, diskussionslos und demütig. Was leicht fällt: So viel weiter sind sie als jene, die Menschen mir steckten, stecken wollten, zu oft stecken konnten. Aber Letzteres zu ändern, ist meine Macht. Eine, die von Geburt an in mir lag. Ich musste sie nur finden. Und erkennen. Und einüben. Und auszuüben anfangen. Versuch und Irrtum. „Nur“ heißt nicht, dass es einfach gewesen oder mir leicht gefallen wäre… Ich hatte Hilfe – oft unerwartete – und, allen Rückschlägen zum Trotz, immer wieder erstaunliches Glück. Das alles zu entdecken – und dem nicht nur ausgeliefert zu sein, sondern es mit beeinflussen zu lernen –, halfen mir Runen; damit weiterzukommen, auch. Viel weiter, als ich je gedacht hatte… Deshalb erzähle ich das alles. Vielleicht hilft es ja auch dir.
So beschreiben mir die Runen des Älteren Futhark die ganze Welt. Sie zeichnen eine Art Landkarte – genauer: viele Arten von Landkarten, je nach Bedarf – und nehmen mich gleich mit. Sie geben nichts vor, was ich zu tun oder zu lassen hätte. Sie nehmen mir keine Entscheidung ab, aber sie ermöglichen mir, besser zu erkennen, warum ich welche treffe und welche ich wagen sollte, wenn ich mich denn schon (oder endlich) traute. Oder so ähnlich. Womit ich sagen will, dass es keine Patentlösungen braucht. Wo immer mir solche angeboten werden, misstraue ich ihnen zutiefst und, wie alle Erfahrung lehrt, zu Recht. Was du nicht selbst machst und verantwortest, macht meist unfrei. Ich mache eine Menge Sachen nicht selber, weil ich sie nicht kann oder mag und bin mir der Folgen bewusst. Niemand kann oder muss alles können. Aber Prioritäten setzen: Das lohnt. Was du willst, machst, nehmen und geben kannst. Es gibt keinen „Alles-wird-besser-Knopf“, so wenig wie endgültige Gewissheit über irgendwas. Aber Haltegriffe – die gibt‘s. Wo sie mir fehlen, sehe ich zu, dass ich mir welche schaffe. Daran entlanghangeln – das ist das Abenteuer. Ich kenne schlechtere.
Runenstein auf Gotland, Schweden
KAPITEL III
Fiktive Erinnerungen eines ebensolchen chattischen Kriegers aus dem 6. Jh.
AUS DEM VERGESSEN
Es dunkelt. Aber das Mondlicht sollte reichen: Fast voll steht Manis Nachtgesicht am Himmel, knapp über den Buchen, die jetzt nur noch Schattenrisse sind, schwarz und stumm. Ich bin nicht weit vom Lager, aber entweder sind sie alle still geworden dort – oder etwas in mir blendet die Geräusche aus, ich kann sie nicht mehr wahrnehmen. Stattdessen höre ich Unken aus Südwest, da ist wohl ein Bach, und das Aufflattern einer Ralle, aber jetzt ist auch das vorbei. Nur der Wind pfeift und klatscht mir die nassen Haare ins Gesicht. Der Regen hat aufgehört. Ich atme durch. Es wird Zeit. Lang will ich nicht wegbleiben. Mein kleines Messer und der Speer. Das kleine Messer meines Bruders und der Speer. Das kleine Messer, das mein Bruder mir geschenkt hat, nachdem er mir – Monde her – versucht hat, damit in den Arm zu schneiden. Echt lustig. Wir dachten, es sei stumpf – aber wir waren einfach nur zu betrunken. Jetzt wird unsere Blutsbrüderschaft, obwohl überfällig, noch ein wenig warten müssen. Wenn wir überleben, wir beide. Wofür – zumindest für meinen Teil – etwas getan werden muss: was ich vorhabe. Die Klinge muss in Holz schneiden – erstmal. Ich betrachte meine Hand,