Das Lied der Eibe. Duke Meyer
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Die Abfolge der 24 Runen des Älteren Futhark lässt sich als Weg von einem Ausgangspunkt zu einem Ziel lesen, aber auch zu einem Kreislauf verbinden. Ich bevorzuge inzwischen die zyklische Variante, da sie alle möglichen Wegteile – auch die linearen – enthält.
Bevor wir uns den Runen und deren Vielschichtigkeit im Einzelnen widmen, werfen wir zunächst einen Blick auf das, was sie verbindet und zusammenhält. Um diese Verläufe in ihrem Zusammenhang kenntlich zu machen, beschränkt sich die Vorstellung der Einzelrunen hier auf Ableitungen ihrer Urbedeutung.
Aller Anfang ist das Entstehen. Wo nichts war, soll etwas werden – und dem kann durch Erschaffen nachgeholfen werden.
Freyrs Ætt – und damit das ganze Futhark – beginnt mit der Rune Fehu. Sie stellt das verfügbare Potential dar, aus dem etwas – ja letztlich alles – erwächst. Diese frei bewegliche Energie ballt sich zusammen in Uruz, das heißt, sie verdichtet sich zu Materie. Thurisaz ist die Kraft, die diese Materie schlagartig und weiträumig verteilt: Das Ergebnis dieser jähen Entladung ist chaotische Verbreitung. Ab hier wird sortiert: Ansuz repräsentiert sowohl das sinnvolle Gefüge als auch die Kommunikation darüber („wo etwas hin soll“: Das Schaffen einer Ordnung bedarf der Verständigung der daran Beteiligten – ob das nun Götter sind oder Menschen…). Raidho erst bringt den Faktor Zeit ins Spiel: Bewegung und Tempo spielen eine Rolle, Zyklen entstehen, rhythmische Abläufe greifen ineinander. Jetzt ist kompetentes Gestalten gefragt und die Lust darauf: wie etwas zusammengehört und wie es zu bearbeiten ist, damit es passt und schön wird. Dieses Können (und den Drang dazu) symbolisiert die Rune Kenaz. Sie führt zur Vollendung des Werkes in Gebo. Das Geschaffene, das nicht mehr verbessert werden kann (was seine Harmonie ausmacht: auf welchem Level auch immer), ist nun fertig, wird „übergeben“, kann ab da sein Eigenleben führen. Das schafft Verbundenheit der daran Beteiligten – sowohl mit dem Werk als auch untereinander. Die Rune dafür ist Wunjo. Sie krönt den Prozess mit Wonne und symbolisiert sowohl die Verbundenheit als auch die Freude darüber.
Der Schöpfungsprozess ist nun abgeschlossen.
Ab hier lassen sich die menschentypischen Fragen stellen: Wer bin ich? Und was soll das alles? Wozu gibt es die Welt? Wozu mich? Und überhaupt was? Die Antwort ist nicht lustig, der Weg nicht einfach. Aber dafür wird er ja beschrieben: um ihn aufzuzeigen, ihn gangbar zu machen, trotz aller Unwägbarkeiten – und durch sie hindurch. Das Ergebnis lohnt alle Mühen. Im Erfolgsfall! Die Anleitung dient seiner Ermöglichung.
Denn Hels Ætt – die mittlere Reihe – beginnt mit einem Schrecken. Hagalaz steht für elementare Zerstörungen und (meist ungewollte) Umwälzungen: Was du hast und was du vorhast, wird womöglich alles verhagelt. Nichts bleibt beim Alten. Wie diese Kraft auch gezielt genutzt werden kann, ist ein besonderes Geheimnis (das an späterer Stelle gelüftet wird) – immer aber stellt diese Rune eine Herausforderung dar. Sie steht letztlich auch für das, was wirklich passiert, während wir Pläne machen – die wir dann aufgeben müssen, weil es angesichts der Umstände so nicht geht. Und damit bringt sie uns – zunächst und bis auf Weiteres – in Not.
Nauthiz, in mehrfacher Hinsicht eine „Schicksalsrune“ (auch das bedarf besonderer Erläuterungen – später!), konfrontiert uns damit, was wir wirklich brauchen – im Wortsinn benötigen. Alles Überflüssige wird unter ihr nichtig und gegenstandslos. So von allem (schönen Zierrat, aber auch störenden Ballast: der meistens überwog – wenn beides nicht eh weitgehend identisch war…) befreit, kommt dein Streben zum Stillstand, die Seele zur Ruhe.
Isa, die einfachste Rune von allen, reduziert uns auf unseren persönlichen Wesenskern. Die zunächst einsame Essenz deines Ichs findet sich bald als Mittelpunkt wieder: von allem.
Jera, als 12. Rune des Futhark auch Mitte des Helsweges, verheißt die Erreichbarkeit alles irgendwie Vorstellbaren – und weist sogar darüber hinaus. Ja: die ganze Welt. Sie sei dein. Sie gehört dir zwar nicht alleine – du teilst das All mit allen anderen Geschöpfen, Kreaturen, Wesenheiten – aber dennoch dir ganz. Alles ist erreichbar: für dich! Bedingungslos und einwandfrei. Das ist wichtig. Es gibt keine Einschränkungen. Du musst nicht einmal Entscheidungen treffen – jetzt noch nicht. Das kannst du erst, wenn du wirklich aus dem Ganzen schöpfen kannst, ohne etwas auszusparen (wie du es vorher lerntest) – und zu dieser Erkenntnis, dass dir (ja, dir!) alles, aber auch wirklich alles möglich ist, verhilft Jera. Sie macht dich eins mit dem All, bis ihr die Rollen tauschen könnt, weil ihr – ungeachtet der Dimensionen: du und das Weltganze – aus ein- und derselben Substanz beschaffen seid.
Ab da geht‘s wieder aufwärts: Die Eibenrune Eiwaz repräsentiert deinen langsamen, aber beharrlichen Aufstieg aus dem Dunkel (deiner eigenen Tiefen: wo du all das erlebtest) ans Licht.
Zurück in das deiner Alltagswirklichkeit wiegt und wirft dich Perthro, der Kessel der Wiedergeburt. Diese bezieht sich auf dein Leben: dieses eine. Der Helsweg ist eine Verwandlung: deine. Die deines Charakters.
Und nach diesen Erfahrungen fühlst du dich in der Tat wie neugeboren: hellwach, wie runderneuert, zu allem bereit. Diesen Zustand repräsentiert Algiz. Ganz im Hier und Jetzt. Fähig zu vollkommener Gegenwärtigkeit: erfüllt vom Zauber des Moments. Jetzt fehlt nur noch ein Schritt. Der letzte. Er führt dich direkt in die Sonne.
Sowilo: Dein innerstes Wesen kommt ans Licht. Es wird dir bewusst. Und es ist rein. Du bist es jetzt: geworden. Auf deiner Fahrt durch die Abgründe. Aus deren Tiefen ermessen sich die Höhen deiner Bewusstwerdung. Du erkennst deinen wahren Willen. Die Wurzeln deiner innersten – auch und gerade dir selbst bis dahin verborgen gebliebenen – Wesenswünsche, deines Strebens und Sehnens. Du siehst die Zusammenhänge: Deine eigene Sonne bringt sie an den Tag. Ab hier gelingen deine Taten.
Du bist jetzt voll und ganz. Ein Geschöpf, das seiner selbst bewusst ist.
Ab da bist du überhaupt erst fähig zu handeln: Entscheidungen zu treffen im Bewusstsein deines Wollens und seiner Impulse und die Konsequenzen sowohl einzuschätzen als auch zu tragen. Ab hier kannst du sie übernehmen: Verantwortung.
Sie ist der rote Faden, der sich durch die dritte und letzte Achterreihe zieht. Diese gibt keinen Ereignisverlauf mehr vor: Der hängt jetzt allein von dir und deinen Entscheidungen ab. Von deinem Tun und Lassen. Weshalb ich diese letzte Runen-Acht gern „die für Erwachsene“ nenne. Die erste lehrte uns, etwas zu erschaffen, entstehen zu lassen, zu gestalten und wie solche Prozesse überhaupt funktionieren. Die zweite verhalf uns zur Erkenntnis unserer selbst, zur Sinnstiftung des eigenen Daseins. Denn wer soll diesen Sinn formulieren, wenn nicht du selbst? Genau deshalb fand das alles statt, nur dazu hast du den Helsweg durchwandert, durchlitten, erlebt und zu deiner eigenen Macht gefunden. Die dritte Runenreihe zeigt, wo und wie diese stattfindet und zu welchen Bedingungen. Darüber hinaus stellt sie ein Arsenal dar: für dein Tun. Sie setzt die Erfahrungen der ersten und zweiten Reihe voraus: Die bilden dein Vermögen, dein Wissen, deinen Hintergrund.
Tyrs Ætt besteht aus Runenpaaren. Zumindest die ersten beiden bestechen durch eine Gegensätzlichkeit, die zunächst unvereinbar scheint. Doch genau darin liegt die Lösung: in deren Verbindung, ja Gleichzeitigkeit – zu jeweiligen Anteilen. Erst zusammen entfalten sie ihre Wirkung harmonisch. Sie ist jedoch kein Festwert, sondern veränderlich. Du bekommst ein Arsenal beweglicher Parameter. Ihre Ausrichtung und ihr Maß bestimmst immer du. Es gibt keine Vorschriften. Nur Konsequenzen. Die Runen helfen, deren Gesetzmäßigkeiten zu erkennen.
Tiwaz