Das Lied der Eibe. Duke Meyer
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Erst die Wikinger hinterließen uns aus den 300 Jahren ihrer europaweiten Seefahrten, Handels- und Eroberungszüge (vom 8. bis zum 11. Jh.) etliche tausend Gedenksteine (verteilt über weite Teile Europas, die meisten jedoch im skandinavischen Raum). Deren Botschaften beschränken sich auf das Festhalten von Einzelereignissen wie Schiffsunglücke oder Jagderfolge – in wenigen dürren Sätzen, die kaum Rückschlüsse auf Zusammenhänge zulassen. Oft besteht mehr als ein Drittel des Textes aus dem „Impressum“: der Mitteilung, welche namhafte Fachkraft die jeweiligen Runen eigenhändig auf dem Stein anbrachte und wer die Arbeit in Auftrag gab (nicht selten waren das Frauen). Ein paar späte, wortreicher geratene Ausnahmen feiern den Beitritt des jeweiligen Stammes zum Christentum…
Die Wikinger benutzten ein auf 16 Zeichen reduziertes Runensystem, das sogenannte Jüngere Futhark. Es ist mit über 6.000 historischen Funden das mit Abstand verbreitetste gewesen. Warum das Ältere (von dem nur ca. 350 Funde künden) so plötzlich verschwand, ist ebenso unbekannt wie der Grund für die erst hundert Jahre spätere Entstehung des Jüngeren und dessen Reduktion auf nur noch 16 Zeichen. (Ich traf mal einen britischen Kenner dieses Systems, der mir – soweit nachvollziehbar – seine Vermutung nahebrachte, die Wikinger hätten halt diejenigen älteren Runen weggelassen, für die sie – als Seefahrer – keine Verwendung mehr hatten. Was zu meiner Auffassung von Runen als hauptsächliche Sinnzeichen passt, denen eine komplexere Bedeutung innewohnt als einem bloßen Buchstabensystem – aber das ist natürlich nicht belegbar.)
Lassen wir die wenig beredten Runeninschriften allesamt – sowie die wenigen lateinischen Buchstaben aus germanischer Hand (wie z.B. die rätselhafte Ein-Wort-Kritzelei „Harigasti III Il.“ auf dem „Helm von Negau“ als älteste germanische Inschrift überhaupt) – beiseite: Alle uns erhalten gebliebenen schriftlichen Aufzeichnungen, die von germanischen Kulturen künden, stammen von Außenstehenden – die größtenteils nicht einmal Zeitzeugen waren.
Die Edda, die reichhaltigste Niederschrift nordischer Götter- und Heldensagen, entstand im 13. Jh. auf Island – das um diese Zeit schon 300 Jahre lang christlich war. Der Verfasser Snorri Sturluson bediente sich der alten Geschichten nach Gutdünken – wir wissen nicht, was er weggelassen, abgewandelt, zusammengefasst, gekürzt oder dazuerfunden hat. Sicher ist, dass er nicht vorhatte, heidnische Überlieferungen möglichst authentisch zu erhalten. Ihm ging es darum, die Kunst der Skaldik zu vermitteln, die damals angesagte Form höfischer Dichtung. Dafür nahm er alte Erzählungen über halb vergessene Götter (denen längst niemand mehr ernstlich huldigte) als Textmaterial und schmiedete daraus die uns erhaltenen altnordischen Verse. Entsprechend hochmittelalterlich geprägt ist das darin gespiegelte Gesellschaftsbild, wenn auch heidnische Vorstellungen früherer Zeiten mit eingeflossen sein dürften. Historisch zuverlässig bringt da aber niemand mehr die Milch aus der Melange. Viele – heute als „typisch germanisch“ geltende – Phänomene sind nur bei Snorri erwähnt oder auf seine Schriften zurückzuführen – und sonst nirgends belegbar. Dazu gehört zum Beispiel die Einteilung der Götter in „Asen“ und „Vanen“ oder die Beschreibung des Weltenbaums Yggdrasil mit seinen „neun Welten“. Ebenfalls finden sich etliche in der Edda erwähnte Gottheiten – wie zum Beispiel Heimdall – so gut wie nur dort. Die Inschrift einer englischen Spindel aus dem achten Jahrhundert nennt zwar (unter anderem) möglicherweise auch Heimdalls Namen, die Deutung bleibt jedoch spekulativ. Mit Sicherheit lässt sich daher nicht sagen, ob dieser Gott je wirklich von Angehörigen germanischer Kulturen verehrt wurde – auch wenn gerade die offensichtlichen Lücken in den literarischen Quellen dies wahrscheinlich machen (weil sie auf ältere Teile des Mythos schließen lassen, die verloren sind), beweisbar ist es bislang nicht. Etliche andere – von der Archäologie eindeutig als germanisch recherchierte – Gottheiten wiederum finden bei Snorri keine Erwähnung. Entsprechend unbekannt blieben Göttinnen wie Tamfana oder Baduhenna. Auch die uns überlieferten Sagas, ebenfalls altnordische Nacherzählungen, wurden erst in christlicher Zeit aufgeschrieben.
Der römische Gelehrte Tacitus, der im ersten Jh. lebte und dessen Ethnografie „Germania“ zu den wenigen aus der Antike verbliebenen Aufzeichnungen über germanische Kultur gehört, hat die nördlichen Landstriche, deren Bewohner er beschrieb, selbst nie betreten. Er zeichnete das Bild der „edlen Wilden“: Unverkennbar wollte er seinem Publikum – der von ihm als „dekadent“ empfundenen römischen Stadtbevölkerung – eine Moralpredigt halten. Was von seinen Schilderungen auf (ohnedies nur abgelauschten) Tatsachen beruhte und was mehr oder minder frei erfunden war, bleibt offen.
Für uns ist und bleibt ganz wichtig, jeden Text, der etwas über germanische Kulturen zu erzählen hat, kritisch zu überprüfen: Wo kommt das her, wer hat das verfasst, woher haben die, die das verfasst haben, ihre Kenntnisse (sind die Quellen glaubwürdig oder im Zweifelsfall nachprüfbar?) – und wovon will der Text uns überzeugen und warum. Das klingt nicht nur mühsam, das kann wirklich in Arbeit ausarten. Aber wer nicht irgendeinem falschen Mythos oder richtig platten Lügen aufsitzen will, kommt nur so der Wahrheit näher. Der ideologische Missbrauch hinterließ nicht etwa Spuren, er hält den ganzen Themenkomplex nach wie vor in Acht und Bann. Die Befreiung davon kann nur schritt- und stückweise erfolgen, manchmal nur im Tempo und mit der Vorsicht archäologischer Pinselstriche. Denn es sind ja nicht immer nur bewusst gesetzte Ideologeme, womit die Deutungen durchdrungen sind, sondern auch unreflektierte und subtiler vermittelte bürgerliche Vorurteile (woher die wiederum stammen und was sie befördert und aufrechterhält, wäre ein Extrathema, das den Rahmen des vorliegenden Buches sprengt).
Bei dieser Gelegenheit sei auf das Beispiel einer berühmten Moorleiche hingewiesen. Seit den 50er Jahren des 20. Jh. geisterte der Fund als „Mädchen von Windeby“ durch die Presse und wurde allgemein als „hingerichtete Ehebrecherin“ gedeutet: aufgrund ihrer in „obszöner Geste“ geballten Faust. Diese erwies sich jedoch zwischenzeitlich als Irrtum: Der Daumen war nie zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt gewesen. Das hatte nur auf dem ersten Foto so ausgesehen – und das war halt wieder und wieder so abgedruckt worden. Ein halbes Jh. hindurch bezweifelte kein Mensch die „eindeutige“ Botschaft. Aber es kommt noch besser: Das (aus welchen Gründen auch immer im Moor versenkt gewesene) Mädchen ist, wie sich inzwischen herausstellte, in Wahrheit ein Junge. Soviel zu bürgerlich-moralischen Interpretationen germanischer Kultur…!
Wer waren „die Germanen“ nun überhaupt? Die Bezeichnung selbst ist ein propagandistischer Kunstgriff – eine Art antiker Werbeslogan. Sein Schöpfer: Gaius Julius Caesar. Der römische Feldherr hatte Mitte des letzten vorchristlichen Jh.s (ca. 58 bis 50 v. Chr.) zahlreiche gallische Stämme unterworfen. Um das für die Fortführung seiner Feldzüge erforderliche Geld vom römischen Senat bewilligt zu bekommen, war eine überzeugende Erfolgsmeldung nötig. Was hätte besser gewirkt, als „ganz Gallien erobert“ melden zu können? Dafür legte Caesar den Rhein als Grenze fest – und bezeichnete alle jenseits des Ostufers lebenden Stämme kurzerhand als „Germanen“.
Den meisten der so Benannten dürfte der Sammelbegriff unvertraut geblieben sein (wie uns dessen Herkunft: Die lange kolportierte Annahme, wenigstens ein Stamm sich so nennender „Speer-Mannen“ habe für die, dann verallgemeinerte, Namensgebung „Germanen“ Pate gestanden, erwies sich als nicht haltbar). In den rheinöstlichen Wäldern und Sümpfen siedelten Stammesgemeinschaften oder zogen nomadisch herum. Germanische Stämme jener Zeit waren in erster Linie Personengefolgschaften. Sie mögen bestimmte Gebiete für sich beansprucht haben,