Das Lied der Eibe. Duke Meyer
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Mir beschreiben die Runen, wie die Welt funktioniert. Sie beschränken sich dabei auf wesentliche Wirkkräfte – und wie diese essentiellen Aspekte zusammenhängen. Die Art der Beschreibung ist vergleichbar mit einem Bauplan, einem Mischpult, einer Matrix. Alle Komponenten sind frei verschaltbar, doch diesen Verknüpfungsmöglichkeiten wohnt eine Systematik inne, eine interne Logik. Das macht die Erklärung so schwierig. Was ist zum Beispiel ein Radio? Ich kann einen Sender suchen und einstellen und dann zur Wiedergabe zum Beispiel den Klang beeinflussen, die Höhen etwas anheben oder den Bass absenken oder umgekehrt. Und dann sagen: So klingt das, so geht das. In deiner Wohnung (universeller: von deinem Standpunkt aus gesehen) aber findet sich derselbe Sender vielleicht ganz woanders auf der Skala oder nur Millimeter von der Erstposition entfernt – je nachdem. Vielleicht klingt auch die Sound-Einstellung, die in meiner Wohnung, oder meinen Ohren, am besten kommt, bei dir völlig unzulänglich und bedarf anderer Angleichung, um vergleichbare Wirkung zu erzielen – wenn die überhaupt gewünscht ist, da so viele weitere Varianten möglich sind. Mit den Runen ist es ganz ähnlich. Es gilt, das Grundsätzliche von den jeweiligen Ergebnissen unterscheiden zu lernen – die können nämlich, je nach „Parameterwahl“, sehr unterschiedlich ausfallen.
Das macht Runen zu Werkzeugen, deren Wirksamkeit durchaus davon abhängt, wie damit umgegangen wird. Die Einsatzmöglichkeiten von Fehu richten sich nach deiner Fähigkeit, verfügbares Potential zu erkennen – oder solches überhaupt erst einmal zu denken und als Prinzip zu erfassen. Die Bedeutung der Rune auf Viehzeug zu beschränken, dürfte heute ebenso sinnvoll sein, wie mit Speer und Schild gegen eine Zahlungsaufforderung vorzugehen. Die Fixierung auf „Kapital“ oder sonst eine Erscheinungsform von Geld belässt die praktische Anwendung von Fehu weit hinter ihren Möglichkeiten. Solche Beschränkungen müssen allerdings keine Fehler sein, gegebenenfalls nicht einmal „Schwächen“. Es kommt auf den Anspruch an. Eine Gitarre wird nicht davon schlechter oder hört auf, ein Instrument zu sein, wenn ich sie nur zum Schrammeln von zwei oder drei Akkorden verwende. Es lässt sich jederzeit mehr damit machen, aber niemand wird genötigt, ihr sämtliche Töne zu entlocken, bloß weil es sie gibt. Auf meiner Tastatur tippe ich auch nur die Worte, die den passenden Text ergeben – und nicht etwa alle Tasten, die auf dem Ding zu finden sind. Letzteres ergäbe blödsinnigen Zeichensalat. Es ist jedoch von Vorteil zu wissen, wie sich Buchstaben zu sinnvollen Worten zusammenfügen lassen und wo sich die Zeichen dafür auf der Tastatur befinden, anstatt nur eine Anzahl von immergleichen Worten tippen zu können. Letzteres tut natürlich kein Mensch. Aber Magieausübende verhalten sich hin und wieder gerne so. Da es in der Magie keine Tastatur gibt, fällt die Reduktion nicht so auf. Das Prinzip ist aber ähnlich. Bei den Runen ebenso.
Fehu hat den Lautwert F. Statt lange darüber nachzudenken, ob die Schrägstriche des Zeichens die Hörner des Viehs symbolisieren oder nicht, empfehle ich, lieber über das Potential nachzusinnen. Schau dir deine Hände an. Sind sie nicht welches? Nicht nur, aber auch! Was kannst du alles damit tun? Gleiches gilt für deine Füße – oder deine Räder, falls du im Rollstuhl sitzt. Letztlich – du wirst es schon erraten haben – liegt das entscheidende Potential in deinem Kopf: oder wo immer bei dir die Vorstellungskraft im Körper sitzt. Bedenke deine Möglichkeiten – und vermeide ihre Einschränkung durch das übliche Wenn und Aber. Nicht, dass die nicht auch hin und wieder ihre Berechtigung hätten. Aber wenn du sie gleich in Geltung treten lässt, behinderst du deine Gedanken und, wenn du das ständig tust, erstickt deine Phantasie. Lass den Vogel deiner Vorstellung über die Mauern, Schluchten und all die anderen Grenzen fliegen, die deiner Erfahrung im Weg stehen. Lass deine Phantasievögel ausschwärmen und dir da, wo du bist, Kunde bringen von dort, wo du meinst, nie hinzukommen. Vielleicht erscheint der Weg zu weit oder zu hindernisreich für deine Füße, Hände oder Räder. Vielleicht tendierst du damit sogar zu realistischen Einschätzungen; Kompliment an deinen Verstand, er ist sicher ein guter Hausmeister. Das reicht nur nicht zur Welterkennung – geschweige denn zur Sinnfindung (die in Wahrheit nur eine Sinnstiftung sein kann, und zwar deine). Und er, dein geschätzter Intellekt, wird dich – unabhängig von seinem Fassungsvermögen und deinem möglichen Intelligenzquotienten – weder dem Glück noch der Liebe noch irgendeiner anderen Erfüllung näher bringen: weil er dafür schlicht und einfach das falsche Werkzeug ist! Verlange nicht Dinge von deinem Verstand, für die er – und wenn er noch so entwickelt und leistungsfähig ist – nicht gemacht ist. Du wirst gleichermaßen dein Herz und deine Phantasie brauchen. Die bestimmen, was du aus dir machst. Beide können dich weit tragen – dir Landschaften und Bereiche zeigen, die im wahrsten Sinn des Wortes dein Bewusstsein erweitern. Wenn du dein Leben meistern willst, ist dringend anzuraten, den Kopf aus der Kloschüssel zu ziehen und den Blick schweifen zu lassen, was es außer der bekannten Scheiße sonst noch so gibt. Die Phantasie schaut auch durch Mauern und Wände, du musst sie nur lassen – und ermutigen. Wo immer du dich befindest – verlasse das Zimmer, den bekannten Raum. Geh raus. Irgendein Draußen gibt es immer und in aller Regel ist es größer, als wir denken. Wir haben nur unsere Wahrnehmung; sie zu erweitern, erfordert – innere oder äußere – Bewegung. Wie so oft gilt: Die eine schließt die andere nicht aus.
Fehu ist nicht die Rune, die Bewegung an und für sich verkörpert, das tut eine andere – aber zu den Merkmalen von Fehu gehört Beweglichkeit. Geld muss fließen, funktioniert durch Austausch, Vieh wird getrieben (von denen, die es hüten – oder es treibt sich selber herum), ist, wie wir uns erinnern, „bewegliche Habe“ – und genauso ist Potential kein fest umrissenes Ding an einem Platz (und schon gar nicht unverrückbar irgendwohin genagelt), sondern ein abstrakter Gedanke. Wenn du seine Essenz erwischst, wird er zum Quell. Das ist Fehu: die Summe deiner Möglichkeiten. Je nach Situation, Lage und Umgebung kann sie klein oder groß sein, nahezu unendlich – oder gar nicht vorhanden. Eins ist sie aber immer: veränderlich.
„Macht“ Fehu überhaupt irgendetwas – außer, dir deine Macht und Vermögen aufzuzeigen? Das kommt auf den Zusammenhang an. Meine Einkünfte zu vermehren, hat zumindest durch das bloße Wohinritzen von Fehu-Runen nicht geklappt. Aber andere Runen halfen mir zu erkennen, wo speziell bei mir die innere Blockade liegt – und wie ich sie anzugehen habe. Fehu allein wird also vermutlich keine schwarzen Zahlen auf dein Konto hexen, sowenig wie es in vorkapitalistischen Zeiten aus zwei Ziegen eine respektable Rinderherde machte oder auch nur aus drei mageren Kühen vier fette. Für solche Art Hexerei bräuchte es ja auch keine Runenkunde und schon gar kein Buch darüber: Mal eben mit den Fingern schnippen und sich einfach was wünschen kann sicherlich jeder Depp. Ich bin kein Zeremonialmagier, der Formeln anzubieten hätte. Ich empfehle den längeren, umständlicheren – aber, wie ich meine, nachhaltigeren und letztlich ergiebigeren – und vor allem natürlichen Weg: den, für den wir Menschenwesen ganz gut geschaffen sind. Den der Selbsterkenntnis. Wir tragen alles in uns, was wir brauchen. Wir müssen es nur erschließen. Das „nur“ in dem Satz mag höhnisch erscheinen, ist aber schlicht wahr. Was lehrte mich Fehu, die erste Rune des Futhark? Zum Beispiel, dass die Frage – das Suchen und Finden, das Sichten und Fördern – des Potentials als erstes kommt. Sowohl das der Situation und Lage – als auch des ganzen Lebens.
Wer meint, kein Potential zu haben, täuscht sich. Davon (dass du sogar ein einzigartiges hast: in dir drin) handelt noch eine andere Rune. Mit Fehu, der ersten, sei schon mal an das alte Sprichwort erinnert, dass „Kleinvieh auch Mist“ macht. Wie sich aus lauter kleinen, scheinbar lächerlichen Einzelposten erstaunlich stattliche Summen ergeben können, lässt sich in jedem Supermarkt erfahren. Das funktioniert auch umgekehrt: in dem Sinne, wenigstens diese winzigen Anteile, die du deinem Potential einstweilen gerade noch zuzugestehen vermagst, beharrlich vermehren zu können. Sich vermehren zu lassen. Ihnen das zu gönnen. Und damit dir selbst. Bis du dich mehr traust. Und irgendwann vielleicht sogar die Quelle findest – die Quelle in dir drin. Sie ist näher, als du denkst. Es gibt ein kosmisches Gesetz, das lautet: „Mehr macht mehr“. Je mehr etwas bereits vorhanden ist, desto leichter fällt es, daraus noch mehr zu machen, während zuwenig meist zuwenig bleibt und oft auch unter großen Anstrengungen nicht nennenswert vermehrt werden kann. Das gilt nicht nur für Geld. Gemeint ist: Potential vermehrt sich nicht durch die Konzentration auf Defizite und etwaige Mängel. Suche lieber nach Möglichkeiten und feiere das gefundene kleine Korn, selbst wenn du dir dabei erst einmal wie das sprichwörtliche blinde Huhn