Dr Crime und die Meister der bösen Träume. Lucas Bahl
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„Die rotglühenden Strahlen der aufgehenden Sonne berühren die Datenhalde.“
„Das ist kompletter Mist, meine Liebe.“
„Ich wollte doch nur etwas zu eurer ästhetischen Schulung beitragen.“
„Wenn du mich fragst, dann bevorzuge ich für meine Geschmacksbildung lieber noch ein Stück dieser vorzüglichen Eierlikör-Torte. Herr Ober! Kommen Sie mal her.“
FOLGE 1
WAS BISHER GESCHAH
Licht fällt auf die Datenhalde.
Ich bin Dr Crıme.
Grinsen Sie ruhig wegen des albernen Namens. Ihnen wird das Lachen schon noch im Hals stecken bleiben.
Damit ist normalerweise meine Begrüßungsformel beendet. Heute jedoch bin ich gezwungen, hinzuzufügen, dass selbst einem abgrundtief abgebrühten Charakter wie dem meinen angesichts der Geschichte, die ich Ihnen zu erzählen habe, das Lachen in der Kehle zu einem Katarakt klirrender Eiszapfen gefroren ist.
Falls Sie sich das absurde Bild meines Halsinneren tatsächlich vorstellen wollen, dann kommt dem ein Kameraschwenk durch eine arktische Gletscherhöhle ziemlich nahe. Auf das, was an verrottenden Fleischfetzen und erstarrten Blutlachen zwischen den Stalagmiten und Stalaktiten zu sehen ist, gehe ich nicht näher ein. Das zweite Buch von Rabelais verrät mehr.
Damit gestehe ich zweierlei: Erstens, ich liebe solche vertrackten literarischen Irrwege. Zweitens, dummerweise teile ich diese Leidenschaft – auch wenn es da nur eine kleine Schnittmenge gibt – mit dem verachtenswerten Leon Walter.
Was also Rabelais anbelangt, verweise ich auf das 32. Kapitel, das in Pantagruels Mund spielt.
Und da wir gerade beim Spielen sind, sei der Hinweis erlaubt, dass ich selbst in den zu schildernden Ereignissen nur eine beschämend-bescheidene Nebenrolle gebe. Der so genannte Held, dem die Hauptrolle gänzlich unverdient in den Schoß fiel, ist besagter Leon Walter. Mir gelang es, seine vollständigen Aufzeichnungen auf eine Weise an mich zu bringen, die ich vorerst nicht näher erläutern will. Und ob ich mich im weiteren Verlauf meiner Schilderung dazu entschließen werde, auf diesen Punkt ausführlicher zu sprechen zu kommen, behalte ich mir vor. In dieser Erzählung werden die Details zu meiner Arbeit nicht das einzige unmöglich zu entschlüsselnde Geheimnis bleiben. Falls Sie Lektüren gewohnt sind, die eine vollständige Aufklärung aller in ihr behandelten Fragen und Sachverhalte bietet, muss ich Sie enttäuschen. Seien Sie stark! Das Leben funktioniert ohnehin meistens ganz anders. Eine beantwortete Frage, vorausgesetzt es war eine gute Frage und eine kluge Antwort, zieht in der Regel mindestens ein halbes Dutzend neuer Fragen nach sich.
Allerdings kann ich meine kleine bescheidene Rolle in diesem Spiel nicht völlig vernachlässigen. Immerhin wirkten einige meiner Anstöße, ohne dass ich das gewollt hätte, in einer Weise auf das Geschehen, die man als richtungsentscheidend, um nicht zu sagen richtungsändernd bezeichnen könnte. Sie wissen schon: der kleine Stein und die große Lawine.
Wie mein Alias bereits andeutet, treibe ich mich in den dunklen Ecken unserer Gesellschaft herum; dort, wo die Fassade der bürgerlichen Existenz und des legalen Geschäftslebens so dünn und fadenscheinig ist, dass es einem Spezialisten wie mir problemlos gelingt, unerkannt von einer Seite auf die andere zu diffundieren, wie man diesen Prozess der Osmose so schön nennt. Schlichtere Gemüter sehen in mir einfach einen netten, älteren Herrn, der seinen Ruhestand genießt, gerne reist und – vielleicht bemerkenswert für einen Knacker meines Jahrgangs – Ahnung von Computer- und Internettechnologien hat. Zu meinem letzten Auftrag namens Leon Walter kam ich – wie ich vermutete – aus genau diesen Gründen. Im Grunde sollte es einfach nur eine etwas erweiterte Form der Überwachung sein. Ein Job, den jeder Privatdetektiv mit der entsprechenden Ausrüstung auch hätte erledigen können. Aber man wollte mich, weil ich in bestimmten Kreisen dafür bekannt bin, Aufträge auch dann erfolgreich abzuschließen, wenn die Grenzen der Legalität längst überschritten sind. Außerdem war es eines dieser berühmten Angebote, die man nicht ablehnen kann.
Bei Leon Walters Aufzeichnungen handelt es sich nicht um sein ohnehin halb oder ganz öffentliches Gesülze, das er via Twitter, Facebook oder WhatsApp abgesondert hat. Dieses unerträgliche Gelalle werde ich nur im Notfall heranziehen, wenn seine privaten Notizen Lücken aufweisen, über die dieser Mensch erstaunlicherweise neben seinen öffentlichen Posts auch verfügt. Glauben Sie mir, allein diese vertraulichen Aufzeichnungen sind Zumutung genug.
So viel vorab: Leon ist ein reichlich unbedarfter junger Mann mit – man muss es so unverblümt sagen – ständig dicken Eiern, dessen Hauptbestreben Tag für Tag in erster Linie dem Triebabbau der stets geschwollenen Testikel gewidmet ist. Dabei scheint es ihm herzlich egal zu sein, wer ihm Befriedigung verspricht. Hauptsache, er kommt zum Schuss, wie man ebenso unschön wie chauvinistisch eine derartige Fixierung auf das Sexuelle in den längst vergangenen Jahren meiner eigenen Jugend bezeichnet hat. In seinem Fall sind die abgegriffenen Phrasen er hüpft von Loch zu Loch oder er rammelt wie ein Karnickel alles, was bei drei nicht auf den Bäumen ist trotz ihrer unerträglichen Banalität die zutreffendsten Beschreibungen seines Charakters. Und nur die Tatsache, dass ihm dabei bisher lediglich Vertreter der eigenen Spezies vors Rohr kamen (Rohr! Sie sehen, die mangelnde geistige Reife dieses Menschen ist ansteckend), heißt nicht, dass er sich nicht irgendwann einmal in seiner Not auch an Schafen oder Hühnern vergreifen wird.
„How auch ever“, wie Leon in seiner profund-pubertär-infantilen Art sagen würde. Der junge Mann liebt schlichte Scherze über alles: So vertauscht er gerne mal Vor- und Nachnamen und nennt sich Walter Leon, was er – wie nicht eigens betont werden muss – ungemein witzig findet.
Ich jedenfalls, als ich unter anderem sein Smartphone gekapert hatte und dann notgedrungen den Müll an SMS, Bildchen und Videos durchforsten musste, nannte ihn seinerzeit Leon, den Unprofessionellen. Nicht zuletzt deshalb, weil ich im Datenwust auch einige Spuren nachlässig gelöschter kleinkrimineller Neigungen gefunden habe, die für den Nachwuchs meiner Zunft, will man Leons Beispiel verallgemeinern, keine besonders rosige Zukunft erahnen lässt.
Leon:
Der Job ist ideal.
Träumen! Und zwar im Dienst der Wissenschaft.
Ich werde Versuchskaninchen und verdiene mein Geld im Schlaf. Ich denke, sehr viel bessere Jobs gibt’s nicht. Selbst die Arbeitszeiten sind äußerst flexibel. Wenn ich tagsüber mal ein Nickerchen halten will, um fit für die anstehende Nacht zu sein, bin ich im Institut ebenso willkommen wie nach einem anstrengenden Ausflug auf die Piste früh um halb fünf.
Ich hatte tierisches Glück, …
Dr Crıme:
Da würde ich eher von Unglück oder, wenn schon, dann von teuflischem Glück reden, wobei das Wort Glück zur überdeutlichen Akzentuierung auch noch mit Gänsefüßchen umrahmt werden müsste.)
Leon:
… dass ich genommen wurde. Laut Mensa-Aushang suchte die Prof lediglich drei neue Schläfer für ihre Versuchsreihe.
Ich klingele also das Institut an und diese weibliche Stimme am anderen Ende – man soll sich niemals NUR