Der blinde Spiegel. Günter Neuwirth
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Und dann noch diese Unklarheiten. Wie wird der Krieg ausgehen? Wie wird sein Leben weiter laufen? Wie wird die Zukunft aussehen? Meyendorff hatte tausendmal mehr Angst vor der ungewissen Zukunft als vor einer eingeleuchteten und eingeschossenen Flakbatterie. Die grauen Schleier wollten sich nicht lichten, wenn er überlegte, was morgen, was übermorgen sein könnte oder würde. Wie bequem ließ sich in der Vergangenheit leben. In der Vergangenheit gab es kein Wenn und Aber, sondern nur Tatsachen. Der Held vom Piave, das war nun einmal sein Onkel, daran gab es nichts zu rütteln. Die Durchbruchschlacht bei Gorlice-Tarnów, die zwölfte Isonzoschlacht, die große Seeschlacht bei Otranto, die Durchbruchschlacht am Piave, das waren die Schlüsselereignisse, die Österreich-Ungarn den Sieg im Ersten Weltkrieg gebracht hatten. Das stand fest und gab Sicherheit. Was aber würde den noch viel größeren Zweiten Weltkrieg entscheiden? Würde der nunmehr sechs Jahre dauernde Krieg morgen entschieden sein? Oder noch einmal sechs Jahre dauern? Hermann von Meyendorff öffnete zum hunderttausendsten Mal, seit er Dienst in dieser Kanzlei tat, den Deckel des roten Stempelkissens, starrte kurz in die rote Farbe und schloss ihn wieder. Er fühlte sich einsam, verlassen und hilflos seinen zitternden Nerven ausgesetzt.
Das Telefon klingelte. Dankbar über jede Abwechslung stürzte er sich auf den Hörer.
„Von Meyendorff. Jawohl, Herr Oberst. Danke für die Nachfrage, es geht mir prächtig, bin auf dem besten Weg der Genesung. Jawohl, Herr Oberst, wird gemacht, ich suche Ihnen die Listen heraus. Natürlich streng vertraulich. Am besten bringe ich Ihnen die Listen persönlich in die Kanzlei. Jawohl, Herr Oberst, wird erledigt. In einer Viertelstunde bin ich bei Ihnen. Jawohl, Herr Oberst, auf Wiederhören.“
Meyendorff knallte den Bleistift auf den Tisch und schnellte hoch. Mit Schaudern dachte er an den nächsten Verbandswechsel. Aber nur kurz, denn schon waren seine Gedanken beim Auftrag von Oberst Smekal.
Er zog beim Gehen sein Bein zwar noch ein wenig nach, trotzdem eilte er durch das Labyrinth des Bunkers. Wobei Bunker sehr schmeichelhaft formuliert war, denn ein richtiger Luftschutzbunker war das hier nicht. Überhaupt gab es in ganz Konstantinopel vielleicht zwei, drei Bunker, die diesen Namen auch verdienten. Ein paar schwere Fliegerbomben gezielt auf die Decke dieses Kellergewölbes und das k. u. k. Fliegerquartier Süd wäre ein stilles Massengrab. Das wusste hier jeder. Zum Glück wussten die Amerikaner das nicht, sonst hätten sie gewiss ein paar Boeings riskiert.
Hektische Betriebsamkeit entfaltete sich vor Meyendorffs Augen, Funker, Schreibkräfte, Kanzleigehilfen, Ordonnanzoffiziere, alle rannten mit angespannten Gesichtern durch die Gänge, Aktenbündel mit aktuellen Berichten, taktischen Konzepten, Verlustlisten und weiß der Teufel noch alles unter die Arme geklemmt. Meyendorff fügte sich in dieses Szenario, zumindest dachte er dies, doch er stach hervor, er schob eine goldene Aura in Form eines kleinen, aber bedeutungsvollen Abzeichens auf seiner Brust vor sich her. Die Leute entboten diesem Abzeichen respektvoll die Ehre und musterten den Helden neugierig. General Kirnbauer hatte darauf bestanden, dass Meyendorff seine Auszeichnung im Dienst trug, denn ein hoch dekorierter Soldat aus bestem Hause war natürlich trefflich für das Renommee des Fliegerquartiers.
Meyendorff kannte nur einen kleinen Teil der Bunkeranlage und Oberst Smekals Kanzlei lag in einem ihm bislang unbekannten Sektor. Es dauerte einige Zeit, bis er die richtige Tür gefunden hatte. Dieser Sektor war stiller, es eilten nicht so viele Leute durch die Gänge, dafür hörte man das stete Klappern von Schreibmaschinen. Er klopfte an die Tür und trat ein. Vier Augenpaare richteten sich auf ihn, vier Frauen, die von ihren Schreibmaschinen hochblickten und vom goldenen Schein Meyendorffs für einen Augenblick gefesselt waren. Von links nach rechts schweifte sein Blick durch den Raum, glitt von Gesicht zu Gesicht.
Zwei Augen stachen hervor. Meyendorff blickte unwillkürlich noch einmal in die Richtung. Oh ja, zwei bemerkenswerte Augen. Ein Bild spiegelte sich auf seiner Netzhaut, und es dauerte einen Augenblick, bis er begriff. Was für ein schönes Gesicht, was für sehnsuchtsvolle, tiefe Augen, was für ein zauberhafter Mund, was für eine wunderschöne junge Frau, was für ein berauschender Blickkontakt! Sein Puls pochte wie verrückt. Niemals hatte er ein anmutigeres Geschöpf gesehen.
„Sie wünschen bitte?“, durchschnitt eine unbarmherzige Stimme scharf diesen Moment des Zaubers. Meyendorff blickte verwirrt in die kämpferisch zusammengekniffenen Augen einer etwa vierzigjährigen, dunkelblonden Frau.
„Ich bringe die von Oberst Smekal angeforderten Listen“, sagte Meyendorff, seine Verwirrung eloquenter als erwartet überspielend. Er fühlte sich wie ein Schlauchboot auf hoher See, hin und her geworfen von mächtigen Wogen.
„Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen“, setzte die Frau im Tonfall unerbittlich fort.
„Oberleutnant von Meyendorff.“
Die Frau telefonierte mit dem Oberst. Die drei anderen Frauen hackten wieder in ihre Schreibmaschinen. Alle drei waren jung, um die zwanzig, Schreibkräfte eben, Mädchen aus besseren Familien und von entsprechender Bildung. Von ihnen gab es Tausende im Dienst der Armee, aber keine war so wunderschön wie dieses eine. Ihr braunes Haar war zu einem langen Zopf geflochten, wie es für Fräuleins im Armeedienst üblich war, dennoch erahnte Meyendorff dessen sinnliche Fülle. Sie saß da in ihrer grauen Montur und bediente mit spielerischer Leichtigkeit die Tasten der Schreibmaschine, grazil und feenhaft, als spiele sie eine romantische Sonate auf dem Klavier. Da hob sie noch einmal kurz ihren Blick, scheu, sittsam und dennoch unendlich kokett.
„Sie können jetzt eintreten, Herr Oberleutnant“, schrillte wieder die schneidende Stimme durch den Raum.
Meyendorff musste sie wiedersehen, koste es, was es wolle, er musste dieses wunderschöne Fräulein wiedersehen.
BUDWEIS, SEPTEMBER 1945
Als die ersten Häuser der Budweiser Vorstadt auftauchen, trennen sich Karels und meine Wege, wir nicken einander wortlos zum Abschied zu. Ich schleppe mich die Gassen entlang. Ich bin kein Jüngling mehr, der Tag auf den Beinen fordert mich, insbesondere, wenn die fetten Brocken verloren sind. Diese Verbrecher. Die schlimmsten Banditen tragen immer Uniform, das weiß doch jedes Kind. Jetzt nur nach Hause und ins Bett. Liegen, schlafen, ausruhen bis zum Morgengrauen. Mein Lohn für dreißig Kilometer Rucksackschleppen ist diesmal sehr dürftig. Aber was soll’s, besser als nichts. Ein bisschen Brot, eingemachtes Gemüse. Was will man mehr?
In den Gassen ist es ruhig, ein paar Kinder lungern herum. Sie haben keine Lust zum Herumtollen, sind einfach zu ausgedörrt vom Hunger. Beiläufig streift mein Blick einen Bretterzaun. Stand da nicht eben jemand im Hauseingang? Ich sehe genauer hin, kann aber nichts entdecken. Muss mich wohl geirrt haben, das kommt bestimmt von der Erschöpfung. Die Kinder mustern mich prüfend und grüßen. Plötzlich bin ich von ihnen umringt.
„Haben Sie etwas zu essen?“, fragt mich ein Bursche mit großen Augen.
„Nein, nichts. Was soll ich haben?“
Die nächsten Straßenräuber, wenn ich denen auch noch etwas abgebe, bleibt für mich nichts mehr.
„Aber der Rucksack. Sie waren doch hamstern“, sagt die Schwester des Burschen.
Ich kenne die Kinder alle, sie wohnen in der Nachbarschaft.
„Kinder, geht, ich habe nichts. Die Gendarmerie hat mir alles genommen.“
Die Kinder wollen es nicht glauben, aber ich habe jetzt keine Nerven für lange Erklärungen und jage sie fort.