Der blinde Spiegel. Günter Neuwirth

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Der blinde Spiegel - Günter Neuwirth

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sechzehn Jahre im Arbeitslager gewesen, meine Gelenke sind ruiniert, mein Rücken hält mich nur noch aus Verzweiflung aufrecht. Und da draußen tobt ein neuer Krieg. Haben Sie das vergessen? Ein neuer, noch mörderischerer Krieg, als ich ihn erlebt habe. Was reden Sie da von Pazifismus, Sie blöder Kerl? Der Pazifismus ist tot, gestorben an Fleckfieber in galizischen und moldawischen Arbeitslagern. Die Generäle haben gesiegt, weil die Generäle immer siegen. Ein General kann nur von einem anderen General besiegt werden, nicht von einem Dichter mit blumigen Sprüchen. Wissen Sie das nicht?“

      Wir gehen stumm einige Schritte nebeneinander. Wir müssen vorsichtig sein, damit unsere Stimmen nicht zu laut werden und auffallen. Die Ohren des Kriegsüberwachungsamtes sind überall, das weiß jeder im Böhmen.

      „Sie haben recht. Ja, Sie haben völlig recht“, sagt Schachner fast unhörbar leise. „Und genau deshalb kann sich der Pazifismus nicht bloß auf Gedichtbände und Feuilletonspalten in Zeitungen beschränken, genau aus diesem Grund muss der Pazifismus handeln.“

      „Ich möchte lieber nicht hören, was Sie jetzt vorhaben zu sagen. Schweigen Sie, ich weiß von nichts und werde in einer Minute vergessen, dass Sie existieren.“

      „Ich weiß, dass Sie dichthalten werden, ich weiß, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Vergessen Sie Ihrerseits nicht, auch ich war im Lager. Ich weiß, was es heißt, nicht einmal im Jahr einen vollen Magen zu haben, aber wie ein Tier schuften zu müssen. Wer das überlebt hat, wird einen Gleichgesinnten niemals verraten. Darum sage ich Ihnen, was ich Ihnen sagen will und muss. Sie denken darüber nach und geben mir Ihre Antwort. Ja oder Nein, mehr brauchen Sie nicht zu sagen. Ich will Ihnen nicht ins Gewissen reden, ich will Sie nicht unter Druck setzen, ich sage, was ich zu sagen habe, Sie teilen mir in vierzehn Tagen Ihre Antwort mit und danach geht alles seinen Gang.“

      Ich bleibe stehen und starre zu Boden. Eine Sekunde, noch eine, eine Schar von Sekunden. Es fallen nun einige wenige Regentropfen auf die zusammengeflickten Dächer der Brettervorstadt. Niemand beachtet uns zwei zerlumpte ältere Männer auf der Gasse, dennoch ist es besser, vorsichtig zu sein. Ich deute in die Richtung eines Weges, der in ein kleines Wäldchen am Rande der Bretterbuden führt.

      „Gehen wir dort entlang. Ein kleiner Spaziergang zweier Herren, das fällt nicht auf.“

      BAHNFAHRT NACH KRAKAU, MÄRZ 1915

      Der Abend will nun hereinbrechen, will das matte Licht dieses Märztages immer weiter in den Westen treiben. Vom Osten kommt die Nacht und unser Zug rollt nach Osten. Reise in die Nacht. Leidgeprüftes Österreich-Ungarn, der Feind steht tief in deinen Ländereien. Aber das Marschbataillon ist unterwegs, rollt unablässig nach Norden und Osten. Den ganzen Tag schon zieht die Lokomotive den schweren Tross durch Mähren in Richtung Krakau. Ich bin ein Teil des Marschbataillons. Plänkler Valentin Kellermeier meldet sich nach sechswöchiger Grundausbildung marschbereit. Vor zwei Tagen wurden wir in Wien einwaggoniert, dann ging es los. Eine langsame, zähe Bahnfahrt durch Niederösterreich mit häufigen Aufenthalten folgte. In kleinen Provinzbahnhöfen Essen fassen, Latrinenrapport, kurzes Exerzieren, dann weiter. Ich weiß noch genau, welche schneidigen Sprüche im letzten August mit Kreide auf die Türen der Waggons geschrieben wurden. Jeder Schuss ein Russ. Jeder Stoß ein Franzos. Jeder Tritt ein Brit. Serbien muss sterbien. Davon ist nicht viel geblieben. Die Soldaten schreiben ihre Siegeszuversicht nicht an die Wand, nicht nach dem Herbst 1914, der uns so viel Leid gebracht hat, nicht nach dem Winter mit den Kämpfen in den Waldkarpaten.

      In Göding haben wir haltgemacht und mussten zum Exerzieren antreten. Eine sinnlose Schikane, darin waren wir uns alle einig, aber Befehl ist Befehl. Da rollte ein Lazarettzug ein und vor unseren Augen wurden drei Tote herausgehoben. Die Männer haben die Strapazen nicht überlebt. Wir sahen totgefrorene Hände, Ohren und Nasen. Nicht vom Feuer des Feindes verstümmelte Soldaten, sondern vom Frost in den Karpaten. Der Schock saß tief. Als der Zug weiterfuhr, debattierten wir über eine Stunde hitzig über die Winterschlacht. Alfred hat das Richtige gesagt: „Jetzt ist Ende März, da kommt sogar in den Karpaten der Frühling, erfrieren werden wir nicht.“ Das war für uns alle ein Trost. Viel wussten wir ja nicht von der Winterschlacht, nur von hohen Verlusten auf beiden Seiten wurde gemunkelt. Aber der Infanterist hat nichts zu munkeln, er hat sich für Gott, Kaiser und Vaterland mutig in den Kampf zu werfen.

      Ich sitze neben Alfred an der schmalen Seite des Güterwaggons, wir drücken unsere Schultern aneinander, denn durch die Ritzen der Holzplanken pfeift der eiskalte Wind. Uns friert, dabei ist die Nacht noch gar nicht angebrochen. Bei Fahrtantritt, knapp nachdem der Zug über die Donaubrücke und hinaus aus Wien gerollt war, habe ich mit der Spitze meines Bajonetts in den Stutzen meines Gewehrs meine Initialen geritzt. VK, Valentin Kellermeier. Die Kameraden haben mich dabei beobachtet und wenig später ritzten sie ebenfalls ihre Initialen in ihre Waffen.

      Mein Blick ruht auf dem Gewehr. Ich halte es steil aufgerichtet vor mir. Kaltes Eisen, dunkles Holz. Ein Steyr M95-Gewehr. Meine Braut, so sagt man. Ich habe gelernt, wie man damit umgeht. Ruhig und gezielt schießen, hat der Ausbildner gesagt, schnell nachladen und weiter ruhig und gezielt schießen. Beim Nahkampf mit aufgepflanztem Bajonett immer in den Bauch stechen, nicht in die Brust, denn da kriegt man das Bajonett vielleicht nicht schnell genug wieder heraus. Bajonette in der Brust klemmen gerne in den Rippen. Kräftig und gezielt in den Bauch stechen, so geht es. Jawohl, Herr Oberleutnant, zu Befehl, ruhig und gezielt und kräftig in den Bauch. Jawohl.

      Ich denke an meinen ältesten Bruder Rudolf. Er ist seit Dezember in Serbien an der Front. Jetzt sind alle drei Söhne meiner Eltern Soldaten. Oder genauer, alle zwei Söhne, denn Fritzl ist ja schon zu Beginn des Krieges an der Ostfront gefallen. Fritzl, der Hitzkopf, der mutige Fritzl, der zweite Sohn meiner Eltern, der mich früher oft hart hergenommen hat, den ich immer ein wenig bewundert und beneidet habe für seine Schneid. Ich werde ihn nie mehr wiedersehen.

      Mein Vater Rudolf Kellermeier ist Verwalter des Schlosses Marchegg, meine Mutter Köchin, ganz klar, dass der Baron die Ausbildung der Söhne und der Tochter seiner pflichtbewussten, treuen und fleißigen Untergebenen im Auge behielt. Der Baron und mein Vater sind seit Langem so etwas wie Freunde, natürlich unter respektvoller Wahrung des Standesunterschiedes. Der Baron weiß zu schätzen, dass er mit der Verwaltung seiner Ländereien kaum Arbeit hat und dass das Hauspersonal unter der Führung meiner Mutter seit Jahren keinen Anlass zur Klage liefert. Mein Bruder Rudolf hat alle Eigenschaften und Fähigkeiten, in Zukunft ganz wie unser Vater ein würdiger Verwalter zu werden. Vor dem Krieg nahm er Vater einen guten Teil der Arbeit ab. Friedrich, mein zweiter Bruder, war in der Schule immer aufmüpfig, hat miserable Zensuren gebracht und schien unseren Eltern mehr Ärger als Freude bringen zu wollen. Doch nach seiner Lehre als Schmied ist er ein ebenso geschickter wie verlässlicher Handwerker am Wirtschaftshof Marchegg gewesen. Annemarie, meine Schwester, war das Liebkind unserer Mutter. Im Sommer wird sie heiraten.

      Ich selbst bin das jüngste Kind meiner Eltern und vorerst hatte niemand mit mir bestimmte Pläne. Ich wuchs im Windschatten meiner Geschwister auf, und da ich eher ein stilles Kind war, gab es kaum Anlass zum Tadel. Nur meine Neigung, in der Bibliothek des Barons die großen Folianten durchzublättern, fiel bald auf. Und als ich mich in Fragen der Geografie und Geschichte als gelehrig erwies, fasste der Baron den Entschluss, dem jüngsten Sohn seines treuen Verwalters und seiner geschätzten Köchin die Weihen höherer Bildung zukommen zu lassen. So kam ich in ein Internat und paukte Cäsars „De Bello Gallico“, Arithmetik und die Schriften Homers. Zuerst habe ich das Internat gehasst, doch irgendwann war ich den Auwäldern, den Wiesen und Feldern des Marchfeldes so entfremdet, dass ich zum Vorzugsschüler wurde. Mir blieb als Sohn eines Domestiken im Kreise der adeligen und großbürgerlichen Schulkameraden auch nichts anderes übrig.

      Die Kameraden grölen und werfen die Karten auf den Haufen. Wieder einmal Streit wegen einer Kartenpartie. Den ganzen Tag über rauchen die hitzigen Köpfe und entzünden sich beim Kartenspiel. Seit dem Halt in Göding ist kein Offizier in unserem Waggon, also hallt das Geschrei,

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