Der blinde Spiegel. Günter Neuwirth

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Der blinde Spiegel - Günter Neuwirth страница 8

Der blinde Spiegel - Günter Neuwirth

Скачать книгу

Arbeiterfunktionärs. Kein hohes Tier, einer vom Fußvolk. Söhne von kleinen Sozialdemokraten werden nicht Unteroffiziere, also ist Pepi ein hundsgemeiner Infanterist wie ich. Während der Grundausbildung haben wir einander kennen und schätzen gelernt. Alfred, Pepi, Toni und ich, wir haben nicht nur im selben Zimmer gelegen, sondern sind auch Kameraden und Freunde geworden. Und alle vier sind wir im Marschbataillon abgerückt und werden gemeinsam an die Front gehen.

      Pepi beginnt gerade, um von der Niederlage beim Kartenspiel abzulenken, mit der Otto-Hänselei. Eine mittlerweile stehende Redewendung im Bataillon. Otto Drabek ist unser Idiot vom Dienst, er ist sichtlich beschränkt, aber wegen seiner kräftigen Beine zum Infanteristen geeignet. Den Kalbfelltornister, das Gewehr und die Munition trägt er mit Leichtigkeit, also taugt er für die Front. Bloß mit dem Kapieren hat er so seine Schwierigkeiten. Am Anfang war es ein Heidenspaß für uns, wenn Otto bei Kommando Links-Schwenk Rechts-Schwenk vollführte. Oder wenn er über eine Stunde für das Lesen einer Seite in der Dienstvorschrift benötigte. Aber als die Ausbildner dazu übergingen, das ganze Bataillon für die Dummheit eines Mannes zu schleifen, musste Otto einiges von uns ertragen. Hänseleien waren da noch das Mildeste. Mir tat er manchmal leid, jedem tat er manchmal leid, was uns nicht hinderte, unseren Zorn an ihm abzuladen.

      Die anderen stimmen sofort in Pepis Vorstoß mit ein und verlachen zum hundertsten Mal den Mann mit dem breiten Rücken und dem schwachen Geist. Otto arbeitete in den Wienerberger Ziegelwerken als Hilfsarbeiter, das hat er einmal erzählt, eingesetzt seiner Intelligenz entsprechend als Ziegelträger oder Hoffeger. Ich weiß nicht warum, aber ich beobachte Otto immer genau, denn er ist nicht nur beschränkt, sondern zeigt auch immer wieder überraschende und merkwürdige Verhaltensweisen. Die Spötteleien machen ihn traurig oder verstören ihn – das war mal so, mal so, aber sein Gewehr ließ ihn richtig erschaudern. Er ist dumm, aber nicht ungeschickt, er kann mit Werkzeug umgehen, nur das Gewehr greift er an, als wäre es eine giftige Schlange, als wüsste er nicht wohin mit seinen Händen. Das Gewehr macht ihm Angst. Ein komischer Kauz.

      Alfred steckt sich eine Zigarette an. Ich folge seinem Beispiel, denn seit ich Soldat bin, rauche ich. Die Stimmen der jungen Männer im Waggon kippen und werden kreischend. Fast wie ein Haufen kleiner Buben im Turnsaal. Wir wollen alle Männer sein, aber irgendwie sind wir noch kleine Buben. Kleine Buben in Uniform und Armeeschuhen. Kleine Buben mit Gewehren und scharfer Munition.

      Es wird dunkel und die Kälte im Waggon ist fast unerträglich.

      BUDWEIS, SEPTEMBER 1945

      Wir blicken uns im kleinen Wäldchen um.

      „Die Luft ist rein. Sagen Sie mir, was Sie loswerden wollen.“

      Schachner kratzt sich am Kinn. Seine Anspannung ist mit Händen zu greifen. Er ermannt sich erst nach einiger Zeit.

      „Die Deutschen investieren wieder viel Mühe in die Modernisierung ihrer Panzerwaffen. Wo werden sie die neuen Panzer einsetzen? Im Osten natürlich. Deutschland hat kein Interesse, uns Österreichern die Italiener vom Hals zu schaffen. Im Gegenteil. Solange die Amerikaner die Italiener durchfüttern müssen, geht ihnen viel Material für den Krieg gegen das deutsche Mutterland ab. Also darf die Südfront, solange sie nicht in ernsthafter Gefahr schwebt, in Europa ruhig bestehen bleiben. Was den Deutschen Kopfzerbrechen macht, ist vielmehr der Osten. Den Sowjets ist es gelungen, hinter dem Ural ihre Industrie neu aufzubauen. Der europäische Teil der Sowjetunion ist ja durch den ewigen Bürgerkrieg in den Zwanzigerjahren und durch die Offensiven der Mittelmächte weitgehend totes Land. Sie waren drauf und dran den Krieg zu verlieren, aber Stalin hat es geschafft, die Industrie in Westsibirien aufzubauen. Wahrscheinlich dauert es nicht mehr lange, bis sie sich mit der Industrie Deutschlands oder Großbritanniens wird messen können. Und die Rote Armee modernisiert sich, das weiß man, die Rote Armee rüstet zur Rückeroberung der russischen Weiten. Es ist anzunehmen, dass Deutschlands allmächtiger Reichskanzler, dieser antisemitische, oberösterreichische Dreckskerl Adolf Hitler, seinen Drang nach Osten durch einen Sieg gegen die Sowjetunion endlich ausleben möchte. Nordafrika ist für die Mittelmächte verloren, aber Nordafrika ist für die Kaiser in Berlin und Wien und ihre mächtigen Reichskanzler ohnedies nicht sehr interessant. Es gibt einfach zu wenige Rohstoffe. Anders aber im Mittleren Osten und in Russland. Man schätzt, dass die größten Rohstofflager der Welt in diesen Regionen zu finden sind. Der Mittlere Osten gehört den beiden Kaisern und dem türkischen Sultan. Aber Russland? Was ist mit Russland? Die deutschen und ungarischen Panzer haben in Westeuropa keine Gegner mehr und im Mittleren Osten wird sich in der nächsten Zeit nicht viel tun. Die Nachschublinien der Alliierten sind schon so gewaltig ausgestreckt, dass selbst die Amerikaner Schwierigkeiten haben werden, genug Material gegen die Levante zu schicken. Was also tun mit all den neuen Panzern und den schwer bewaffneten Infanteriedivisionen? Die Weite Osteuropas ruft, und deren Bodenschätze. Noch ist die Sowjetunion besiegbar, noch ist die Rote Armee ungenügend ausgerüstet, in zwei Jahren ist das vielleicht anders. Wir erwarten, dass die Deutschen und Ungarn noch einmal alles gegen die Sowjetunion werfen werden. Sie wollen die Sowjetunion endlich niederringen. Hitler wird dem Kaiser wieder einmal die Faust ans Kinn setzen und ihn zwingen, die Offensivpläne zu unterschreiben, davon bin ich überzeugt. Spätestens in drei Monaten rollen die modernsten deutschen Panzer gegen die Sowjetunion. Die Sowjets wissen das auch, also müssen sie etwas unternehmen.“

      „Jetzt frage ich Sie einmal, was wir beide tun sollen? Zwei hungernde, zerlumpte österreichische Pazifisten mitten in einer tschechischen Bretterstadt. Was hat das alles mit mir zu tun? Und selbst wenn ich etwas tun könnte, warum sollte ich Stalin helfen? Er ist ein Diktator und sicherlich dem fetten Kriegstreiber Churchill und dem Massenmörder Hitler nicht unähnlich. Wahrscheinlich träumt er von einem Raubzug durch Deutschland, bloß fehlen ihm noch ein paar Waffen. Außerdem weiß man sogar in Budweis, dass es in der Sowjetunion Lager gibt. Wieso soll ich einem Regime helfen, das Lager unterhält?“

      „Lager gibt es überall. Auch die prodeutsche Minderheit in Nordamerika steckt in Lagern, dabei predigt der Präsident der USA ständig Freiheit und Demokratie. Die Welt ist schlecht, die Kaiser, Reichskanzler, Präsidenten, Parteivorsitzenden, Premierminister, weiß der Teufel, wie die Kerle überall heißen mögen, sind Verbrecher und Mörder, und daran können wir nichts ändern. Dennoch ist die Sowjetunion in höchster Gefahr. Millionen Russen wollen keinen noch längeren Krieg, sie wollen die Wunden der letzten blutigen Jahrzehnte heilen. Aber die Feldherren der Welt haben kein Interesse an einem großen Volk, das in Frieden lebt und sich wirtschaftlich und kulturell erholt, sonst könnte ja die Wehrkraft der eigenen Armeen geschwächt werden. Und, lieber Valentin, Sie wissen genau, wo die verbohrtesten Feldherren ihre Wohnsitze haben: in Berlin, Wien und Konstantinopel. War es nicht der preußische Militarismus, der in den Dreißigerjahren zum Wettrüsten mit den USA geführt hat? War es nicht der k. u. k. Militarismus, der Italien permanent gedemütigt hat, bis Italien selbst zur Militärdiktatur wurde? War es nicht der türkische Militarismus, der Bulgarien, Serbien und Griechenland gezwungen hat, die Balkanentente zu bilden? Und war es nicht die Hochkonjunktur des mitteleuropäischen Militarismus, die zum zweiten großen Weltenbrand geführt hat? Wir beide sind Pazifisten in einem Land, in dem die Bezeichnung Pazifist das schlimmste aller Schimpfwörter ist. Unsere Gegner, nämlich Ihre und meine, sind nicht die Italiener, Engländer, Amerikaner oder Russen, unsere Gegner sind die deutschen, österreichischen und ungarischen Generäle. Gegen diese müssen wir kämpfen. Sie sagen richtig, ein General kann nur von einem General besiegt werden, niemals von einem Dichter, aber der Dichter kann dem General vielleicht einen Hinweis geben.“

      Ich musste ihn unterbrechen, das war ja nicht länger auszuhalten.

      „Guter Mann, sagen Sie mir, warum ich einem sowjetischen General helfen soll, einen österreichischen zu besiegen. General bleibt General, welche Farbe seine Uniform hat, ist gleichgültig. Begreifen Sie das nicht?“

      „Doch, aber wir müssen die Russen warnen. Wir müssen ihnen helfen, vom Militarismus unseres Landes nicht überrollt zu werden.“

Скачать книгу