2136. Tino Hemmann
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»Python endlos faseln«, hauchte Simo, der in seiner Gruppe in der dritten Reihe an fünfter Stelle kniete, ohne dass sich Mund oder Augen bewegten und ohne dass es jemand hören sollte.
In der Rotte hieß Simo »17-Spund-Simo«. Er war blond und dürr – jede einzelne seiner Rippen war auch unter den Shortshirts deutlich zu erkennen – und viel zu kurz geraten. Wahrscheinlich war der Kleine neun Jahre alt – niemand wusste das genau. Jedenfalls war Simo ein Räudiger, gefangen in den nördlichen Wäldern zwischen dem großen Bodden und der Ostsee. Er wirkte ganz anders als die Educares, wie 16-Spund-Levi links oder 18-Spund-Flor rechts neben ihm im dritten Zweig der Elia-Gruppe. Educares waren die gezüchteten Spunde der Europäisch Demokratischen Republik (EDR). Deren Körper waren meist kräftig gewachsen und sie wirkten größer. In der »Spundzucht« ließen die Demokraten im Nordwesten der EDR auf der Halbinsel Schiereiland die Educares züchten, die im Alter von acht Jahren auf die Rotten aufgeteilt wurden.
Räudiger hingegen waren einst Wilde gewesen. Sie wuchsen mit oder ohne Angehörige und unüberwacht in der Kargheit jenseits der geschützten Städte auf und gehörten zur Brut der Abtrünnigen. Wurden sie während einer Treibjagd gefangen, brachte man die kleinen männlichen Exemplare zunächst zum Chippen in die »Beutemast« auf Schiereiland und erst später, so auch sie das achte Lebensjahr erreicht hatten, zur Abrichtung in die südlichen Rottenquartiere der EDR. Fast alle anderen Abtrünnigen, die nicht in das Schema der Rotten passten, wurden während der Treibjagden umgebracht.
Die Rottenführer schienen allesamt Weiber zu sein. Sie gaben ihrer jeweiligen Rotte den Namen. Oder wurden die Weiber nach der Rotte benannt? Simo wusste von einer Boa- und einer Viperrotte. Ihn aber hatte man in die Pythonrotte gesteckt. Er hasste die Rottenführerin Python. Er verachtete auch 01-Spundgruppenführer-Elia. Er hasste alle Educares, verabscheute die Rottenausbildung und das ganze System. Elia, die Nummer 01 seiner Gruppe, war selbstverständlich auch ein Educares. Alle Gruppenführer waren Educares! Die Gene, die Elia erschaffen hatten, waren kontrolliert rein und ausgezeichnet, sein Körper schien extrem kräftig, widerstandsfähig, mit angeblich stählernen Knochen und voller Muskeln, sein Haar leuchtete hell und rötlich schimmernd. Obwohl Elia etwas jünger war als der schmächtige Simo, überragte er diesen um eine deutliche Kopflänge. Der Gruppenführer trug die Schirmmütze und das GMG-40, ein Gehirn-Manipulations-Gerät. Simo hatte Elias Finger genau beobachtet.
Das GMG war ein flaches Gerät, das an einer Leitung an Elias Gürtel baumelte. Im oberen Bereich besaß es drei Sensortasten, mit denen die Strafeffektivität eingestellt wurde. Darunter waren sieben Reihen mit je sechs Tasten, durchnummeriert von 02 bis 43. Taste 17 gehörte zu Simo und eine Taste 01 gab es nicht. Warum auch sollte sich Elia selbst bestrafen? Hatte Elia etwas an Simos Verhalten auszusetzen, stellte er oben die Art der Bestrafung ein und drückte die Taste 17. Wie auch immer es Elia gefiel, drückte er entweder kurz oder aber lang darauf. Der Chip in Simos Rückenmark sorgte für einen quälenden Schmerz in seinem ausgemergelten Körper. Nasenbluten oder eine Ohnmacht konnten folgen. Eine bestimmte Einstellung des GMG-40 würde sogar zum Tod des zu bestrafenden Spundes führen.
Die Python besaß ebenfalls ein GMG, aber ein ganz anderes, ein größeres, mit viel mehr Tasten. Sie konnte auch die Spundgruppenführer bestrafen, ebenso wie eine ganze Gruppe, oder gar die komplette Rotte gleichzeitig ausschalten.
34-Spund-Paul, einer aus Simos Gruppe, hatte einst berichtet, er hätte mit eigenen Augen gesehen, dass eine Spundgruppe tot umgefallen sei, nachdem es eine verbale Auseinandersetzung mit der Python gegeben hätte. Es sei vor Simos Zeit in der Rotte gewesen. »Paul das nicht erdichten«, hatte der elfjährige Räudiger versichert. »Python g’glättet 48 Spunds, glaubt’s, in erbärmlichem Augenblick.«
Mädchen gab es in der Rotte jedenfalls keine. Wenn überhaupt, dann gab es hier nur das eine erwachsene Weib, die Python. Einen richtigen Mann hatte Simo nie wieder zu Gesicht bekommen, seit Jahren nicht. Der letzte, den er gesehen hatte, war jener Mann gewesen, den er »Papa« genannt hatte, dessen Gesicht in Simos Träumen jedoch mehr und mehr verblasste.
Mit dem Begriff »Glätten« synonymisierten die Demokraten das Neutralisieren, das Töten, das Vernichten auf dem Territorium der EDR. Redeten sie aber vom Feind, dann nannten sie es »Schlachten«. Die aufgezwungene Sprache Der Zehn verharmloste viele böse Dinge. Statt »Kindsoldat« sagten sie »Spund«, statt »töten« »glätten«, statt »quälen« und »erniedrigen« sagten sie »befähigen«.
Die Räudiger und die Educares sprachen in sehr unterschiedlichen Dialekten. Das hatte seinen Grund. Educares erfuhren eine Ausbildung, die Räudiger nicht. Die künstlich erschaffenen Educares wurden im ersten Lebensjahr als »Spundbrut« und anschließend als »Klitzespund« bezeichnet. Während ihrer Kindheit und in den Rotten wurde ihnen ein Grundlagenwissen beigebracht, das mit den Lehren und Anschauungen der Regenten der Europäisch Demokratischen Republik durchsetzt war. Die Räudiger hingegen lernten nur die wortkarge Sprache der Abtrünnigen. Selbst die jüngsten gefangenen Räudiger wurden nicht unterrichtet. Einzige Ausnahme war die militärische Grundausbildung. Allseits galten die Spunde der Abtrünnigen als minderwertige Menschen und man ließ es sie deutlich spüren. Räudiger besaßen keine Rechte und jede Führungsposition in den Rotten wurde stets aus den Reihen der Educares besetzt.
Innerhalb der Rotten existierten zwei unterschiedliche Ausbildungslinien, die großen Einfluss auf die Außenausbildung ausübten. So entstanden Spundschützen, die mit ihren kleinen Gewehren umzugehen lernten, oder Spundspione, die dazu befähigt wurden, sich in der fast menschenleeren Umgebung Europas und des Morgenlandes zurechtzufinden und die Spundschützen zu ihren Zielen zu führen.
Erst mit zwölf Jahren wurden die Jungen als »Jungspunde« bezeichnet und verließen die Rotten. Dann kamen sie in militärische Ausbildungslager, die an der südlichen Grenze gelegen waren. So hieß es zumindest. In der Rotte wurde viel über die Zeit »danach« gefachsimpelt und die Ansprachen der Python schürten all die Vorstellungen und Träume der kleinen Krieger, von denen sich einige immens darauf freuten und es kaum abwarten konnten, die Armeen des Morgenlandes schlachten zu können.
Die Educares wurden bereits gechippt, wenn die Zucht den Eingriff in die Brut zuließ. So konnten die Scanner sie von Beginn an unterscheiden. Viele der Educares sahen sich recht ähnlich, denn die künstliche Aufzucht erfolgte oft in genetisch identischen Gruppen.
Die Räudiger, von den Fängern als »Beute« bezeichnet, chippte man meist unmittelbar nach dem Fang. Da sie meist schon einige Jahre alt waren und das Chippen, das durch einen Med-Roboter durchgeführt wurde, ohne Betäubung erfolgen musste, da sonst die Gefahr bestand, dass das Rückenmark den Fremdkörper abstieß, war es für die Räudiger ein unglaublich schmerzlicher Vorgang. Simo erinnerte sich nur sehr ungern daran, denn es waren üble Sturzbäche von Tränenwasser gewesen, die tagelang aus seinen Augen geflossen waren, bis der Kopf völlig geleert schien.
Die Beutemast auf Schiereiland bestand aus Ställen, in denen jeweils zwanzig Räudiger untergebracht werden konnten. Die Aufsicht führten einige Frauen, sogenannte »Instrukteurinnen«.
Ernährt wurden die kleinen Räudiger mit der Pampe, einem merkwürdigen Brei in einer klebrigen Substanz, die Simo sehr oft den Mageninhalt ungewollt entleeren ließ. Diese wurde auch den Spunden in den Rotten verabreicht.
Die Chips überwachten ihren Spund zu jeder Zeit – alles, was die Jungen taten, wurde ausgewertet, ebenso wie Kraft und Ausdauer, der Zustand ihrer Organe sowie die Zuverlässigkeit des Gehirns. Durch die Bewegungsenergie des jeweiligen Trägers wurden die Chips energetisch versorgt. Über das GMG der Rottenführerin schickten sie sämtliche Daten zu einem System namens Praescius, dem Datenverarbeitungssystem und Hauptspeicher der Europäisch Demokratischen Republik, wo sie gesammelt und ausgewertet werden konnten. Direkt im Chip verblieben lediglich die