2136. Tino Hemmann

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2136 - Tino Hemmann

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aufgegriffene Jungen unter acht Jahren – man bezeichnete diese als Räudiger –, die nachweislich gesund und kampffähig waren, gechippt und der Spundausbildung in den Rotten zugeführt werden sollten, wobei die Parlamentarier stets dafür Sorge trugen, dass die Räudiger ihrer Herkunft nach wie Sklaven zu behandeln waren. Daraus entwickelte sich ein allgemeines Gefühl von Hass zwischen Educares und Räudigern.

      Auf einer großen, unverseuchten Halbinsel im Norden Europas, die den Namen »Schiereiland« erhielt und durch die Japankatastrophe entstanden war, schuf man die bedeutsamen Produktionszentren der EDR, darunter auch die Educares-Kultur – die Zuchtstation für Spunde – und die Beutemast, in der gefangene Räudiger aufgezogen wurden.

      Im Jahr 2136 befand sich die Menschheit bereits im hundertzwanzigsten Kriegsjahr des Dritten Weltkrieges.

       Passus 2

       Das ausschließliche Bestimmungsrecht über alle Belange der EDR liegt bei Den Zehn – den Demokraten –, wobei jeder Der Zehn für sich selbst einen Nachämter festsetzt.

      Im Gleichschritt marschierten sie fast lautlos zum Terminal. Der dünne Stoff unter ihren Füßen war keineswegs mit einer festen Ledersohle zu vergleichen. Jedes Steinchen bohrte sich in die geschundenen Füße der Spunde. 01-Spundgruppenführer-Elia lief links vorn neben der ersten Linie, das Kinn leicht angehoben, die rechte Hand schwingend, die linke am GMG. Er schnalzte im Takt der Schritte und alle richteten sich danach.

      Sie marschierten in Linien zu je sechs Spunden. Eine solche Linie wurde militärisch mit »Zweig« bezeichnet. Elia gehörte keinem Zweig direkt an. Der Führer eines Zweiges, der immer links in der Linie zu laufen hatte, bekleidete den Dienstgrad »Spundzweigboss«. In der Hierarchie war also die Rottenführerin ganz oben, gefolgt vom Spundgruppenführer, Spundzweigboss bis hinunter zum Spund. Wobei die Spundzweigbosse ebenfalls immer Educares waren, allerdings wenig zu sagen hatten.

      Zu Beginn des Ausbildungsjahres waren es zweiundvierzig Jungen gewesen, nur sechsunddreißig hatten bis zu diesem Tag überlebt. Die fünf Geglätteten waren ausnahmslos Räudiger gewesen, während ein Educares nach einem Sturz aus dem Bett gestorben war.

      Die sechs Jungen eines Zweiges verbrachten die Nächte in einem sechsstöckigen Bett. Die Betten waren aus Kunststoff und einschließlich der Liegefläche aus einem Stück gefertigt. Jeder Spund nutzte seine raue Decke aus dem gleichen dünnen, grauen Stoff, aus dem auch die Shortshirts bestanden. Die Etagen der Betten waren über eine Leiter erreichbar, der Spundzweigboss schlief immer unten. In einem Schlafraum standen vierzehn solcher Betten mit insgesamt vierundachtzig Kojen dicht beieinander, wobei jeweils am Ende der Gruppe einige nicht mehr belegt waren. Hinzu kamen die beiden Einzelbetten der Gruppenführer. Somit schliefen zwei Gruppen mit anfänglich bis zu sieben Zweigen in einem Raum. Innerhalb der Rotte existierten dreißig solcher Schlafräume. Die Nummerierungen der Namen entsprachen nie genau der Reihenfolge der Spunde in der Gruppe, denn die leer gewordenen Kojen wurden durch sogenannte »Nachrücker« aufgefüllt, meist vom Ende der Gruppe, in anderen Fällen auch von Neuankömmlingen oder durch Festlegung der Rottenführerin. Beispielsweise war 42-Spund-Jona, ein Educares, vor etlichen Monaten an die sechste Stelle des ersten Zweiges gekommen, woraufhin 07-Spund-Davi Spundzweigboss im zweiten Zweig wurde.

      Die tagsüber getragenen Shortshirts wurden am Abend im Sanitärtrakt in die Klappe geworfen. Am Morgen lagen sie gereinigt im Sanitärfach des jeweiligen Spundes.

      Ein Spund besaß nichts. Simo aber hütete einen kleinen Schatz. Er hielt das zusammengeklappte Skalpell in einer engen Felsspalte im Spionage-Ausbildungsgelände versteckt.

      *

      Simo marschierte an fünfter Stelle in der dritten Linie, verbrachte alle Nächte in der fünften Etage des dritten Bettes, wusch sich stets am fünften Wasserhahn des dritten Beckens, nutzte das fünfte Sanitärfach in der dritten Reihe und saß beim Essen auf dem fünften Hocker am dritten Tisch. 13-Spundzweigboss-Linu, natürlich ein Educares, führte Simos Zweig an, in dem es nur einen einzigen weiteren Räudiger gab: 15-Spund-Seba. 15 war unterwürfig, diskutierte nicht und benutzte niemals ein Schimpfwort. Stellte Simo ihm eine Frage, dann konnte er ewig auf eine Antwort warten und bekam sie wahrscheinlich nie. Trotzdem lag Sebas Güte fast gleichbleibend bei 80 Prozent, während die von Simo erheblich zwischen 30 und 70 Prozent schwankte. 15 lag im dritten Bett. Eine Etage tiefer schlief 14-Spund-Thom, den Simo häufiger als alle anderen mit dem Schimpfwort »Weibsbürzel« titulierte und damit auf dessen praktisch nicht vorhandenes Geschlechtsorgan anspielte.

      Als »Bürzel« bezeichneten die Räudiger die verkümmerten Geschlechtsorgane der Educares. Zwar waren die Räudiger oftmals körperlich schwächer und schmächtiger gebaut als ihre künstlich erzeugten Konkurrenten, doch waren deren Penisse und Hoden normal gebildet. Nichtsdestoweniger war »normal« in den Augen der Educares etwas ganz anderes, denn die hielten ihre verkümmerten Stummel für korrekt und die deutlich größeren und zudem funktionstüchtigen Geschlechtsteile der Abtrünnigen für naturwidrig. Das gegenseitige Bombardieren mit Schimpfworten unterhalb der Gürtellinie gehörte zum üblichen Sprachgebrauch der Spunde. Geschätzt wurde stets der, der ein neues, außergewöhnliches Schimpfwort erfand. Die Kreationen kannten dabei kaum Grenzen und zielten meist auf das ab, was sich unter den Shortshirts versteckte.

      Zwischen Seba und Simo marschierte 16-Spund-Levi, ein außerordentlich arroganter Educares, dem Simo nur allzu gern die Kehle durchgeschnitten hätte. An sechster Stelle und somit ganz oben im Bett befand sich 18-Spund-Flor, der Simo rein äußerlich ähnlich war und von den anderen Educares regelmäßig darauf hingewiesen werden musste, dass er ein Educares sei, auch wenn er sich den Räudigern gegenüber nicht immer wie ein solcher verhielt.

      Selbstverständlich gab es in den Nächten bei vielen Gelegenheiten auch Kontakte mit den Spunden der anderen Zweige und Gruppen. Die Betten standen schließlich unmittelbar nebeneinander, sodass die Jungen jeweils Kopf an Fuß lagen. Wenn Simo in seiner Koje in der fünften Etage lag, dann schliefen die beiden Educares Luka aus dem zweiten Zweig und Feli aus dem vierten Zweig unmittelbar neben ihm. Simos bester Kamerad, 34-Spund-Paul, lag im fünften Etagenbett ganz oben. In dessen Zweig gab es drei Räudiger, im vierten Zweig hingegen nur einen einzigen, nämlich 21-Spund-Samu.

      Simo war so klein, dass es nur einen einzigen Spund in der Gruppe gab, der ihn nicht überragte. Dabei handelte es sich um den Räudiger 06-Spund-Mich, der im ersten Bett in der fünften Etage liegen musste und der an jedem Abend vor dem Erklimmen der Leiter in den Sanitärtrakt eilte. Morgens drohte er in seiner Eile fast von der Leiter abzustürzen, denn gleichzeitig die Leiter zu benutzen und die Beine zusammenzukneifen, das funktionierte einfach nicht.

      *

      Vor dem Einschlafen kam es im düsteren Schlafsektor der Spunde oft zu kindisch-vulgären Gesprächen, die schnell ausarten konnten:

      »Yäh, 17, peinlicher Räudiger, schwankt das ganze Bett, weil du deinen Tierschwanz schrubbst?«, fragte Luka laut, der den kleinen Simo beleidigen wollte, und die Educares lachten höhnisch.

      »Yäh, 11, Weibsbürzel, stößt dich meins Rohr – erschlägst dich. Trifft ’s dich meins Saft – ersäuft’s dich. Ich hör wohl dein Neid!«

      Nun lachten all die Räudiger und stimmten Simo zu.

      »Neid? Dass ich nicht lach. Wer will schon so einen spritzenden Hundeschwanz mit sich rumschleppen?«

      »Yäh, 11, ich, der Simo, werd ein’s Tag’s Kinder tun. Weiber und Jungs. G’werkeln werd ich immerzu. Bestehen werd ich in Zukunft. Euerseits wird’s all ausg’löscht sein!«

      »Yäh!«,

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