2136. Tino Hemmann
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Simo schaute hin. »Anschaue nichts.«
»Sieh genau hin. Ich meine den kleinen Fleck.«
»Leberfleck meinst? Was Besondres ist’s? Unverkennbar, seh ihn.«
»Was Besonderes?«, fragte Juli vorwurfsvoll. »Macula hepatica! Die ganzen Educares springen doch ständig nackt vor dir rum. Hast du jemals auf deren Haut auch nur einen Leberfleck gesehen? Oder etwa irgendeine andere Pigmentstörung?«
»Weißes nicht.« Mit der Pelzpfote berührte Simo Julis Hals. »Schau runzellose Retortenschisse nicht gern häufig an.«
»Nein, Kleiner, du wirst bei ihnen nie einen finden. Weil sie nämlich keine haben. Die Educares werden aus gereinigten Biomolekülen gezüchtet. Ihre Erbinformation ist nicht verschmutzt. Sie werden außerdem kaum krank. Und die Züchter werden immer besser. Wenn du also wissen willst, ob einer der Spunde ein Räudiger ist, dann schau dir nicht nur seinen Schwanz, sondern vor allem seine Haut an.«
Argwöhnisch zog Simo die Hand zurück. »Scheiß erzählst! Du groß und Muskeln wie Educares! Hast aber ’nen Schwanz. Räudiger ist, was ein ordentlichen Tierschwanz besitzt, kein Bürzel. Und zwei Eier. Egal mir die Leberfleck sind. Was bist wirklich?« Simo richtete die Waffe auf Juli – entsichert und schussbereit.
Der große Junge betrachtete den kleinen mitleidig. »Meinen Schwanz hast du also entdeckt, obwohl du dir die Educares angeblich nie richtig anschaust? Du glaubst mir wohl nicht, Simo? Das enttäuscht mich sehr. Ich dachte, wir könnten Freunde sein, so wie Paul dein Freund ist.«
»Paul? Freund?«, rief Simo entrüstet, fast etwas zu laut, und erhob sich. »Paul nicht Freund, nur auch Räudiger. Du aber nie Räudiger! Schwatzt zu gut. Was bist wirklich?«
Juli taumelte rückwärts, ließ sich plötzlich ins hohe Gras fallen, als wollte er sich Simo gänzlich unterwerfen. »Natürlich ist Paul dein Freund! Warum behauptest du so etwas? Du bist nicht besser als die Demokraten! Du siehst alles nur schwarz und weiß! Du siehst nur Gut und Böse! So wirst du niemals richtige Freunde finden!«
»Hab richtig Freund g’habt!«, brüllte Simo und Tränen schossen aus seinen Augen. Da war es schon wieder. Verdammtes Geheul! Warum blieb das verfluchte Tränenwasser nicht in seinem Kopf? »Hab scharenweise Freunde g’habt!«, klagte er.
»Und wo sind sie, deine angeblichen Freunde?«
»Haben’s g’glättet! So welche wie du haben’s g’glättet!« Simo drückte auf den Knopf der Waffe. Sie lud sich und feuerte gleich zweimal. Auf den Boden gepresst lag Juli da, direkt neben seinem Kopf roch es nach verbranntem Gras. Jetzt ließ Simo die Waffe fallen und rannte einfach davon.
»Warte doch, Simo!«, rief Juli, erhob sich und ergriff die Waffe. »Bitte, Simo, so warte doch!«
Doch Simo lief unaufhaltsam davon. Er atmete tief ein und aus, sprang und rannte, kletterte und sprang wieder. Seine Tränen trocknete der Wind. Immer weiter, immer weiter! Kein Sterblicher hätte ihm folgen können, so hoch hielt er die Geschwindigkeit, balancierte über Abgründe, erklomm glatte Felswände. Und obwohl die Kräfte irgendwann nachließen, rannte er noch schneller, als gehörten seine Beine einem anderen.
*
Simo hetzte durch das Unterholz, gelangte an das Ufer des großen Boddens, der nach dem Beben, lange Zeit vor Simos Geburt, entstanden war. Er hörte noch immer den Klang der Trompete, die eine aus nur einer Oktave bestehende Melodie spielte.
»Papa! Mama!«, brüllte der Fünfjährige und hörte von überall die lauten Motorengeräusche, Schreie und peitschende Salven. »Lene, Lina, Lena!«
Der Unterschlupf in seinem Dorf am Bodden wurde angegriffen! Der Winzling in den abgewetzten Kleidern, die ihm Mama zusammengenäht hatte, stürzte in einen Graben, rappelte sich auf und kroch auf der anderen Seite wieder hinauf. Er flitzte quer durch ein Feld, das die erwachsenen Männer bestellt hatten, auf dem Weizen für Brot wuchs, rannte den Feldweg hinunter, auf dem er unzählige Male an der Hand des Vaters zur Schmiede gelaufen war, in der Papa Werkzeuge herstellte, näherte sich dem Dorf und erblickte die riesigen Transporter mit den EDR-Symbolen, die der von Vater und Mutter verhassten Europäisch Demokratischen Republik gehörten. Der Junge schlüpfte durch eine schmale Öffnung zwischen zwei Katen, kletterte geschwind wie eine Ratte über eine Leiter auf den Schuppen und robbte bis zur vorderen Dachrinne. Von dort aus konnte er den großen Hof und einen Abschnitt der angrenzenden Dorfstraße sehen.
Die Angreifer trugen graue Uniformen, Helme und Handfeuerwaffen. Sie waren alle noch sehr jung, vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Rabiat drangen sie in die Häuser ein, brüllten »Rauskommen!«, schlugen Scheiben ein und schossen wie zum Spaß auf die freilaufenden Tiere – Hühner und Gänse, von denen die Familien leben mussten. Auf der Straße lagen Tote aus Simos Dorf, auch Kinder waren darunter. Die kleinsten Jungen wurden wie Vieh zusammengetrieben und von EDR-Soldaten mit Schlägen traktiert.
Jetzt kamen mindestens dreißig von ihnen auf seinen Hof! Simo rutschte ein Stück zurück, um nicht gesehen zu werden, hörte sie aber alle durcheinanderbrüllen.
»Raus mit euch, ihr peinlichen Abtrünnigen! Rattenschisse, verfluchte! Sonst brennen wir das Haus ab!«
Einige Soldaten zerschlugen die Fenster, fünf drangen ins Haus ein, zehn weitere in die Nebengelasse. Simo hörte die Schüsse ihrer Waffen. Dann sah er die dreijährigen Zwillingsschwestern Lina und Lena, die von zwei Soldaten an ihren schönen, blonden, langen Haaren aus der Scheune gezerrt wurden. Bestimmt hatten sie sich zuvor im Stroh versteckt.
Einer schlug erst Lina, dann Lena die Beine weg, sodass die Mädchen in den Dreck stürzten und vor lauter Angst schrien.
Ein anderer, noch jüngerer Soldat, näherte sich, klappte das Visier seines Helms hoch und brüllte: »Los, 17, du darfst die wertlosen Weiber glätten!« Dann lachte er. »Was ist, 17, verpisster Spritzpimmel, glättest wohl nicht deinesgleichen?«
»Glätt’s doch du, haarloser Retortenbürzel!«, rief der Soldat mit der Nummer 17 und rannte wütend vom Hof. Der Jüngere legte die Waffe an, schoss zweimal auf Simos Schwestern, deren Leiber daraufhin zuckten, um dann regungslos liegen zu bleiben, während sich ihre Kleider an manchen Stellen rot färbten. Eine halbe Sekunde später wurden die beiden Körper von inneren Explosionen zerrissen.
Papa kam aus dem Haus gerannt, schlug mit einer Axt wild um sich, ohne jedoch einen der Kindsoldaten zu treffen, und flehte. Noch bevor er seine toten Zwillinge erreichen konnte, wurde er von unzähligen Schüssen getroffen. Sein Körper wurde regelrecht zerrissen.
Ein heiserer Schrei ertönte. Simo weinte nicht. Er brüllte nur.
Die EDR-Soldaten entdeckten den Fünfjährigen auf dem Schuppendach, gleich vier von ihnen erklommen das Gebäude.
Blitzschnell wie der Wind sprang Simo auf der anderen Seite vom Dach, landete auf einem Strohballen, rannte an der Rückseite des Hauses entlang und schlüpfte durch die Hintertür zur Küche. Erschüttert blieb er stehen. Er sah Mama auf dem Küchenstuhl schlafen, Lene, das vier Monate alte Schwesterchen der Zwillinge, an die Brust gequetscht. Aus einem großen Loch in Mamas Unterleib hingen Gedärme, aus Lenes Hinterkopf tropfte Blut auf Mamas Schürze.
In diesem Moment ergriffen kräftige Hände den kleinen Simo, der kurz darauf in einem geschlossenen Fahrzeug der