2136. Tino Hemmann
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»Du aber hier? Wie geht’s?«
»Als ich sieben Jahre alt war, haben sie mich entdeckt. Mutter wurde bestraft und ich in ein Haus der Oberen gebracht. Sie wollten mich töten, doch ein Privilegierter Beamter schickte mich hierher. Ich wurde bei vollem Bewusstsein gechippt, wie ein Räudiger. Und weil sie sich unschlüssig waren, haben sie mich als Educares deklariert. Für mich gibt es nämlich keine eindeutige Definition. Ich bin ein Städter. Doch die gehören in die Kuppelstadt und nicht hierher. – Verstehst du mich jetzt?«
Simo schaute in Julis Gesicht. »Ist schön dort in Schneekugel?«, fragte er, ohne Julis Frage zu beantworten.
»Nein«, antwortete der Große unbeherrscht laut. »Das versuch ich dir doch die ganze Zeit zu erklären. Dort ist es nicht besser als in der Rottenschule. Die Kuppelstädte sind riesige Gefängnisse mit vielen Sklaven und wenigen Herrschern. Es gibt da nur zwei Sorten Menschen: Staatseigene und Privilegierte Beamte. Staatseigene schuften und Privilegierte Beamte genießen, weil sie von manipulierten Spundrotten geschützt werden. Wer sich wehrt, wird ohne Pardon ermordet.« Nach einer kurzen Pause meinte Juli noch: »Dort, wo du gelebt hast, war es mit Sicherheit am besten.«
»Meinst als Abtrünniger? Bist albern.«
»Ich meine dich, als freien Menschen, Simo. Kapier es doch: Bis sie dich verschleppt haben, warst du ein völlig freier Mensch. Die Bezeichnung ›Abtrünniger‹ haben Die Zehn erfunden, die mächtigsten Zehn in Europa.«
Lange schaute Simo schweigend in Julis Augen. Dann fragte er: »Warum macht alles kaputt, was am besten?«
»Weil es den Menschen eigen ist, immer wieder alles Gute zu zerstören. Die Menschheit benötigt nicht den Angriff irgendwelcher Außerirdischer, Simo, wie es in manchen alten Lettersammlungen geschrieben steht. Ich habe viele davon gelesen. Die Menschheit hat es ganz gut drauf, sich selbst zu vernichten. Es ist die Gier des Menschen nach Bedeutung, Macht und Reichtum. Und diese Gier wurde in weiter Vergangenheit aus dem einfachsten Überlebensinstinkt geboren. Sie hat sich erst mit der Menschwerdung entwickelt.« Juli flüsterte. »Kein einziges Tier wird jemals so dumm sein wie ein Mensch. Intelligent sind nur die Tiere und Pflanzen.«
»Womöglich ich Tier oder Pflanze?« Simos rhetorische Frage war äußerst ernst gemeint.
Doch Juli lachte darüber. »Du? Ein Tier? Nein, Simo. Auch du bist ein Mensch. Und ganz bestimmt wird die Dummheit sich eines Tages auch bei dir einstellen. Ganz sicher.« Eine Sekunde zögerte Juli, dann fragte er erneut: »Was ist nun, Simo? Du schuldest mir noch eine Antwort. Wollen wir Freunde sein?«
Eine Antwort gab Simo dem großen Jungen nicht. Stattdessen fragte er: »Hat’s Schlange ’nen Chip?«
»Ja«, sagte Juli.
»Weißt’s?«
Der Große blickte starr in die Augen des Kleinen. »Woher ich das weiß?«
Simo nickte.
»Sie sagte es mir. Und ich habe die Narbe gefühlt.« Die Augen Simos weiteten sich.
»G’fühlt? Wie?«
»Ich darf dir nicht alles erzählen. Ich weiß, dass der Chip da ist. Ich weiß, dass Domina Hero einen Zugriff darauf hat. Die Schlange ist ein Sklave Der Zehn.« Erneut flüsterte er: »Wie auch wir Sklaven Der Zehn sind.«
Noch immer hielt der Kleine die Handgelenke fest. In seinem Kopf arbeiteten die Gedanken, entstanden neue Fragen. Doch Simo fragte nicht.
Stattdessen ergriff Juli noch einmal das Wort: »Was nun, Simo? Wollen wir Freunde sein? Vielleicht darf ich dir dann mehr erzählen. Vielleicht bist du dann bereit dazu, ein wenig mehr von der Wahrheit zu erfahren.«
Simo zögerte kurz, kletterte schließlich von Juli herunter und zog sich rasch den Pelz über Oberkörper und Kopf. »Muss eilen zu 01-Spundgruppenführer-Elia.«
Auch Juli erhob sich, rieb sich die Handgelenke und klopfte Laub und Dreck aus seinem Pelz. »Du hast dich nie dafür bedankt, dass ich dir dein Leben gerettet habe.« Das war mit Sicherheit keine Frage.
Simo antwortete auch darauf nicht, sondern rannte unvermittelt los.
Juli hatte große Mühe, dem Kleinen zu folgen. An einem Hang sah er Simo zweihundert Schritte vor sich.
Der stand breitbeinig da, zu ihm gewandt, und rief: »Hab viel Sonnenschein g’sehn, drüben in mein Tod! Du aber, dummer Spritzpimmel, bracht’s mich zurück ins Eiskaltland! Und willst wohl jetzt noch Dank dazu?«
»Verdammt noch mal, du winziger klugscheißender Hosenfurz! Es gibt nichts Wertvolleres als das Leben, Simo! Kannst du das nicht kapieren oder willst du es einfach nicht?«, schrie Juli dem Kleinen nach, der sich wieder in Bewegung gesetzt hatte und weiter den Hang erklomm. »Jetzt warte doch!«
Juli hetzte sich ab, doch er erreichte Simo bei diesem Test nicht mehr. Der kleine quirlige Kerl war einfach schneller und überquerte lange vor ihm einen umgestürzten Baum, der über einen tiefen Abgrund führte.
Juli folgte ihm, vorsichtig balancierend, und kletterte auf der anderen Seite eine äußerst steile Wand hinauf, die nur wenig Halt bot. Kurz bevor er das Plateau erreichte, bröselte ein Vorsprung unter seinem linken Fuß weg. Der Zwölfjährige verlor den Halt, krallte sich an einem Vorsprung fest und ruderte auf der Suche nach einem erneuten Halt heftig mit den Beinen. »Simo!«, brüllte er. »Simo, ich stürze ab! Hilf mir, Simo!« Seine Bewegungen wurden hektischer, als er bemerkte, dass der Pelz ihn daran hinderte, den Absturz mit den Händen zu verhindern. Der sichere Tod war nah. »Simo, komm zurück! Bitte!«, flehte Juli mit schwindender Kraft. »Bitte, Simo!«
In jenem letzten Moment des Halts griffen zwei Hände von oben zu und zerrten Juli mit kräftigem Schwung hinauf auf das Plateau. Übel gelaunt und um Atemluft ringend lag der Junge da und schaute hinauf in die geschminkten Augen der Rottenführerin Python, die in ihrer schwarzen, glänzenden Uniform mit den leuchtend weißen Streifen breitbeinig über Juli stand.
»Gut gemacht«, sagte die. »Doch pass besser auf dich auf. Denn tot wirst du der Sache herzlich wenig nützlich sein.« Daraufhin wandte sich die kolossal wirkende Frau ab und lief mit ruhigen Schritten über das moosige Felsgestein davon.
Juli lag am Rande des Abgrunds, blickte in den blauen Himmel und zögerte damit aufzustehen.
»Hab viel Sonnenschein g’sehn, drüben in mein Tod!«, hörte er Simos hohe Stimme rufen. Wie schlimm stand es um die Welt, wenn ein kleiner Kerl, wie Simo einer war, den Tod dem Leben vorzuziehen gedachte? Es wurde höchste Zeit, den Kleinen aus dem tiefen Wasser zu ziehen und ins Boot zu hieven. Höchste Zeit!
Neumoskau: Angriff der Spunde
»Schau’s