Wie frei wir sind, ist unsere Sache. Ulrich Pothast
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In den letzten Jahrzehnten gab es – wieder einmal – eine aufgeregte Debatte um die Fragen: Sind wir frei? und: Wenn ja, in welchem Sinn genau, und was folgt daraus? Seit der Spätantike ziehen sich wiederkehrende, oft mit großer Erbitterung geführte Kämpfe um diese Fragen durch die Jahrhunderte. Traditionell stehen auf einer Seite Verfechter einer natur- oder gottgegebenen menschlichen Freiheit, auf der anderen Seite Vertreter einer natur- oder gottgegebenen menschlichen Unfreiheit, seit einiger Zeit auch mit dem Wort »Determinismus« verbunden. Dass dieser Streit nicht aufhört, wurde auch schon als Skandal bezeichnet, und es wurde gefordert, über diese Dinge nicht mehr zu reden.1 Das hat natürlich nicht geholfen. Denn wir haben als Menschen ein elementares Interesse an den genannten Fragen, unter anderem, weil sie eng mit dem Problem unserer Verantwortung für eigene Taten zusammenhängen. Ich werde nun nicht versuchen, den sehr alten Streit zu Ende zu bringen, indem ich der einen oder anderen Seite zum Sieg verhelfe. Das ist schon unabsehbar oft versucht worden und nie gelungen. Man kann auch vermuten, dass der Streit bis auf weiteres gar nicht zu Ende kommen kann, weil er auf einander widersprechenden, jedoch gleichermaßen unleugbaren Erfahrungen in unserem Verhältnis zur Welt und zu uns selbst beruht. Dieser Konflikt ist durch bloße Theorie offenbar nicht aufzulösen.2 Statt nach Freiheit oder Unfreiheit als dauerhaften Eigenschaften zu fragen, die uns von Natur aus unveränderlich zukommen, werde ich eine Errungenschaft kultureller Entwicklung betrachten, die uns auszeichnen kann, sofern wir Personen sind. Auch dafür kann das Wort »Freiheit« verwendet werden. Es bezeichnet dann allerdings nichts Natur- oder Gottgegebenes, sondern eine veränderliche, unfeste Eigenschaft.
Der junge Arzt Lydgate in George Eliots Roman Middlemarch3 ist ehrgeizig, sozial engagiert und will sich auch als Forscher bewähren. Er sieht ein, dass er bei solchen Absichten vorerst weder Zeit noch Geld für eine Ehe hat, und beschließt, in den nächsten fünf Jahren keinesfalls zu heiraten. Nur wenige Wochen später kann er dem Reiz der schönen, ihn liebenden Rosamond und ihren Tränen über sein distanziertes Benehmen nicht widerstehen. Er weicht von seinem Vorhaben ab, es kommt zu Heirat. Die Ehe leidet von Beginn an unter Geldmangel. Denn Lydgate gibt seinen wie Rosamonds Ansprüchen auf teure Haushaltung nach, wider bessere Erkenntnis und besseren Vorsatz. Am Ende vor dem Bankrott stehend, leiht er sich Geld von einem zwielichtigen Bankier und gerät in den Skandal um Machenschaften dieses Geldgebers. In der Kleinstadt Middlemarch könnte er sich als Arzt nur noch halten, wenn es einen Neuanfang mit viel Arbeit und sparsamster Lebenshaltung gäbe. Ein sehr offenes Gespräch mit Rosamond wäre dafür eine unverzichtbare Vorbedingung. Nach mehreren, erfolglos endenden Anläufen hierzu kann Lydgate auch die letzte, alles entscheidende Gelegenheit nicht nutzen. Er bricht den begonnenen Versuch, zu dem er schon die Lippen geöffnet hat, in Bitterkeit ab. Die Eheleute, vom Leben und voneinander tief enttäuscht, verlassen Middlemarch. Seine Forschungspläne und sozialen Projekte gibt Lydgate auf.
Vermutlich haben wir alle schon einmal in einer konkreten Lebenslage anders gehandelt, als wir es im Vorfeld bei beruhigter Überlegung für richtig hielten und von uns erwarteten. Wir sind dann vielleicht einem in der Situation auf uns eindringenden Anreiz gefolgt, haben einer Drohung nachgegeben, sind der eigenen Begierde erlegen oder ähnlich. In jedem Fall waren wir in unserem faktischen Tun nicht so, wie wir in zeitübergreifender Perspektive sein wollten. In einem bestimmten Sinn waren wir zum Handlungszeitpunkt unfrei. Denn unter irgendeinem Einfluss, den wir vielleicht nicht einmal als Einfluss erkannten, blieben wir nicht im Einklang mit uns selbst. Wir waren in unserem konkreten Handeln nicht die Person, als die wir uns zuvor gesehen hatten und meist auch im Nachhinein gern weiter gesehen hätten.
Lydgate zeigt sich in mehreren Situationen als ein solcher Mensch. In diesen Zeitabschnitten wirkt er wie in sich zerrissen. Eigenen, »festen« Vorsätzen stehen Gefühle und Bedürfnisse entgegen, die sich im kritischen Moment impulsiv geltend machen, so dass er vielfach nicht handeln kann, wie er es zuvor entworfen, mehrfach auch »beschlossen« hat. Wir können sagen, er ist zu solchen Zeiten in dem eben angesprochenen Sinn unfrei. »Frei« hingegen können wir in diesem Verständnis eine Person nennen, wenn und solange sie es vermag, ihren Vorstellungen vom richtigen eigenen Handeln in eben den Lebenslagen, in denen solches Handeln gefordert ist, nachzukommen.
Diese Art Freiheit kommt in unserer Welt nur bei Personen vor, Wesen, die ein wünschendes, denkendes, Handlungen entwerfendes Verhältnis zu sich selbst haben. Wegen der Bindung an die personale Lebensform, und weil diese Freiheit von Person zu Person ganz verschieden ausgeprägt ist, nenne ich sie »personeigene Freiheit«. Ihre Idee unterscheidet sich von der großen Mehrzahl der Freiheitsbegriffe, die in Umlauf sind, unter anderem durch folgende Merkmale: Die Möglichkeit, in diesem Sinn frei zu sein, gehört zum Leben als Person, aber nicht alle Personen besitzen diese Freiheit in gleichem Maß und in gleicher Weise. Vielmehr hat sie bei jeder Person eine andere Ausdehnung, andere Beständigkeit und andere Schwerpunkte. Überdies ändern sich ihre Stärke und Reichweite bei jeder Einzelperson im Lauf des Lebens. Ferner hat jeder Mensch die Möglichkeit, Erstreckung und Festigkeit seiner personeigenen Freiheit zu beeinflussen. Wir können versuchen, ihre Reichweite zu vergrößern, zu verteidigen, nach Freiheitsverlusten wieder herzustellen. Ob wir es bemerken oder nicht: Die je personeigene Freiheit gehört mit der stillschweigenden Sorge um sie und Anstrengungen für sie zu den unausgesprochenen Lebensthemen jeder personalen Existenz.
Die personeigene Freiheit ist charakteristisch unfest. Sie ist kein stabiler, naturgegebener Besitz des Menschen schlechthin, sondern ein Feld individueller Möglichkeiten von Entwicklung, Erhaltung, Verfall. Unsere Aufmerksamkeit in Sachen unseres Handelns gilt gewöhnlich der Frage, wie wir handeln sollen. Unser Handeln, das kann als anerkannt gelten, ist unsere Sache. Was wir weniger oft beachten, ist, dass auch unsere personeigene Freiheit unsere Sache ist. Verlässslichkeit, Schwerpunkte und Ausdehnung dieser Freiheit obliegen zu hohem Anteil unserer eigenen Anstrengung, sind Gegenstand unserer Lebensarbeit als ständig sich erneuernder Bemühung um die Intaktheit des eigenen Selbst und die Richtigkeit seiner Taten. In der Realität eigenen Tuns bei Vorstellungen und Vorsätzen bleiben zu können, die wir uns in beruhigter, situationsunabhängiger Überlegung für unser Handeln gemacht haben, kann in hohem Maß zum Gegenstand individueller Anstrengung und Befriedigung werden. Im negativen Fall jedoch ist es auch häufig Anlass für Bedrückung und Selbstverachtung. Es erscheint verständlich, dass die Bedrohung dieser Freiheit durch unberechenbar auf uns eindringende Impulse geradewegs als Bedrohung der persönlichen Intaktheit erlebt werden kann.
Der Begriff personeigener Freiheit, wie er hier vorgestellt wurde, mag ungewohnt und fremd erscheinen. Faktisch ist etwas Verwandtes jedoch in der Philosophie des letzten Jahrhunderts diskutiert, nur anders beschrieben und philosophisch anders gedeutet worden.4 Auf Verdienste und Mängel dieser Position werden wir zurückkommen.
Weil personeigene Freiheit immer unfest bleibt und stets Gegenstand individueller Selbstsorge ist, steht ihr Konzept in markantem Kontrast zu wesentlich bekannteren Formen von Freiheit, die bei menschlichem Handeln vermutet bzw. unterstellt werden. Es steht auch im Gegensatz zu Theorien, die eine relevante Freiheit des Menschen durchgängig leugnen. Gegen beide Weisen der Menschendeutung, sowohl die Behauptung, wir besäßen eine feste, letztlich unzerstörbare Freiheit, als auch die konträre Behauptung, wir seien ein für alle Mal unfrei und fremdbestimmt, ist personeigene Freiheit abzusetzen. Dies soll zum besseren Verständnis des Kommenden zunächst in knapper Form geschehen.
2. Die Idee personeigener Freiheit unterscheidet sich von bekannteren Freiheits- und Unfreiheitskonzepten
Als stabile, gewöhnlich allen Menschen gleichermaßen zugeschriebene, dauerhafte Auszeichnung ist aus dem großen Bedeutungsspektrum des Wortes »Freiheit« vor allem die »Freiheit des Willens« oder »Willensfreiheit« bekannt. Mit der herkömmlichen Gebrauchsweise dieser Wörter verbindet sich der Gedanke einer unverlierbaren Ausnahmestellung des vernünftigen Menschen im Universum der Lebewesen. Zu der traditionellen Idee der Willensfreiheit, wie wir sie in klassischer Form mit unterschiedlichen Begründungen