Wie frei wir sind, ist unsere Sache. Ulrich Pothast

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Wie frei wir sind, ist unsere Sache - Ulrich Pothast

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theoretischen Schwerpunkt im Ersten Teil: Etwas über Wollen, Wählen und freier Werden. Hier ist zunächst unser Verhältnis zu unserem Willen bzw. aktuellen Wollen zu klären und die Frage, wie weit unser Einfluss hier tatsächlich reicht. Es ist eine alte Beobachtung, dass wir zwar unser Wollen auf das gewollte Handeln richten können, aber dass wir nicht wollen können zu wollen. Wie Wille bzw. Wollen zu verstehen sind, wenn wir uns keinen direkt bestimmenden Zugriff darauf zusprechen können, soll im Ersten Teil so weit behandelt werden, wie es für das weitere Verfahren nötig ist. Dabei ist wichtig, sich deutlich zu machen, dass auch dann, wenn wir diesen direkten Zugriff nicht haben, keineswegs folgt, dass wir durchweg fremdgelenkte Wesen sind. Selbst wenn wir glauben, dass all unsere Entscheidungen und unser gesamtes Handeln aus vorausliegenden Bedingungen (z. B. unserem Gehirn) gesetzmäßig hervorgehen, folgt die häufig zu hörende These durchgängigen Fremdbestimmtseins nicht. Vielmehr müssen wir uns aufgrund klar darstellbarer, sehr folgenreicher Besonderheiten der Entscheidungssituation in eben dieser Situation (!) immer als die Urheber unseres jetzt und hier bevorstehenden Tuns verstehen. Auch wenn die fragliche Situation vorbei und unsere Handlung ausgeführt ist, müssen wir uns rückblickend als Urheber unseres Tuns in der vergangenen Lebenslage (!) anerkennen und die Lasten dieser Urheberschaft übernehmen.1

      Obgleich es so ist, dass wir unseren Willen nicht umweglos und mit perfekter Sicherheit bestimmen können, bleibt uns doch eine Mehrzahl von Möglichkeiten, ihn indirekt zu beeinflussen. Eine Auswahl wichtiger Mittel dieser Art, die wir im Sinn vernünftiger Selbstgestaltung und im Sinn menschenmöglicher Lebensbefriedigung nutzen können, wird im Gang des Buches vorgestellt und diskutiert werden. Im möglichst weitreichenden Gebrauch derartiger Mittel liegt der Schlüssel zu möglichst weitreichender personeigener Freiheit. Der Erste Teil beginnt diesen Gang, indem er die vorhin genannte indirekte Willensorientierung als elementare Gemeinsamkeit verschiedener Formen solchen Mitteleinsatzes vorstellt.

      Der Zweite Teil wird, ausgehend von einzelnen Theorieelementen aus Platon und Aristoteles, zwei bis heute dominante Traditionslinien des indirekten Einflusses auf eigene Willenseinstellungen behandeln. Ihr sachlicher Gehalt ist unabhängig davon, ob man im historischen Rückblick das schwierige Wort »Wille« als Interpretationsmittel für klassisch-griechisches Gedankengut benutzt oder sich anders ausdrückt. Insbesondere die rationalistische Traditionslinie, für die ich einen wichtigen Quellpunkt bei Platon sehe, scheint mir für die westliche Kultur prägend geworden zu sein. Zwischen die Erörterungen zu Platon und Aristoteles setze ich ein Kapitel, in welchem existenzphilosophische und neuere Analytische Theorien, die meines Erachtens auf eine unmittelbare Selbstwahl der menschlichen Person zielen, einer Kritik unterzogen werden. Entsprechend steht der Zweite Teil unter dem Titel: Wegweisendes Altes und gewagtes Neues.

      Der Dritte Teil des Buches, Personeigene Feiheit und Selbstverhältnis, behandelt mehrere Weisen des Selbstumgangs, die für die genannte Freiheit wie auch für indirekte Willensorientierung bedeutsam sind. Durch sie wird eine sinnvolle Form dieser Freiheit teils in besonders tiefreichender Weise verwirklicht, durch ihren unangemessenen Einsatz oder das Unterbleiben dieses Einsatzes aber auch verfehlt. Es handelt sich, metaphorisch gesagt, um personeigene Werkzeuge, die nicht jeder jederzeit einsetzen muss, die aber, wenn eingesetzt, zu speziell ausgeprägten Formen der individuellen Willensorientierung führen.

      Das Thema der Freiheit persönlicher Entscheidung hat für die abendländische Philosophie ein besonders großes Gewicht gewonnen, weil es sich früh mit dem Thema der Verantwortung des Menschen für eigene Handlungen verbunden hat. Dass personeigene Freiheit mit der Möglichkeit gesetzmäßigen Hervorgehens menschlichen Wählens und Tuns aus vorausliegenden Bedingungen vereinbar ist, wurde vorhin schon gesagt. Dass die Vereinbarkeit in diesem Fall nicht zu der klassisch-kompatibilistischen Auffassung des Verhältnisses von Freiheit, Verantwortung und Strafe führt, sondern zu einer grundsätzlich anderen Deutung von Verantwortlichkeit und Schuld, soll im Schlusskapitel erkennbar werden. Unter dem Titel Personeigene Freiheit und der Schuldgedanke werden elementare Züge einer anderen Auffasssung von Schuld und Schuldbewältigung vorgetragen.

Erster Teil I. Über unser Handeln verfügen wir direkt, über unser Wollen keineswegs

      Lew Tolstoi erzählt in Krieg und Frieden eine Episode aus Napoleons Russlandfeldzug. Nach der Niederlage bei Austerlitz und weiteren Feindseligkeiten hatte der junge Zar Alexander I. mit dem Frieden von Tilsit eine Kehrtwende vollzogen und das russisch-französische Bündnis erneuert. Eine sehr freundschaftliche Begegnung Alexanders mit Napoleon wird im Roman ausführlich beschrieben. Dennoch kam im Juni 1812 die Nachricht, dass Napoleon mit einer riesigen Streitmacht die Memel überschritten und russisches Gebiet betreten habe. Damit drohte für Russland ein großer, potentiell katastrophaler Krieg. Der junge Alexander war durch Napoleons Treubruch aufs äußerste erbittert. Nach Tolstoi sprach er die Worte: »Ich werde mich erst dann zufriedengeben, wenn nicht ein einziger bewaffneter Feind mehr in meinem Lande zurückgeblieben ist.«1 Der Erzähler betont, dass dieser Satz dem Zaren sehr gefiel und vollständig seine Empfindung wiedergab. Unverzüglich ließ der Zar einen Brief an Napoleon schreiben, in dem er dessen Vorwände für den Angriff zurückwies und noch einmal seinen Friedenswillen betonte. Den relevanten Satz ließ er in den Text nicht aufnehmen. Denn er fürchtete, dass dieser Ausdruck seiner ganzen Entschlossenheit den letzten brieflichen Versuch zum Erhalt des Friedens belasten könne. Er beauftragte jedoch seinen Generaladjutanten Balaschow, in Napoleons Lager zu reisen, den Brief dem französischen Kaiser persönlich zu übergeben und dabei wörtlich jenen Satz zu übermitteln, der im schriftlichen Text weggelassen war.

      Die Franzosen hielten den General Balaschow zunächst mehrere Tage hin, bis er von Napoleon empfangen wurde. Der müde, von Bonapartes Anblick etwas eingeschüchterte, vom anfangs freundlichen Tonfall des mächtigen Mannes zusätzlich überrumpelte General übergab den Brief und trug Argumente vor, die den russischen Friedenswillen zeigen sollten. Über seinen mündlichen Auftrag berichtet der Erzähler, dass Balaschow die zu überbringenden Worte des Zaren wörtlich im Gedächtnis hatte und an den Befehl des Zaren dachte, »doch ein verworrenes Gefühl hielt ihn zurück. Er konnte diese Worte nicht sagen, obgleich er es doch wollte.«2 Schließlich brachte er einen anderen Satz hervor, der nur Napoleons Rückzug hinter die Memel verlangte, aber die unbedingte Entschlossenheit des Zaren, keinen Kompromiss zu schließen, nicht angemessen wiedergab.

      Tolstois Darstellung lässt keinen Zweifel daran, dass Balaschow vor der Begegnung mit Napoleon durchaus willens war, den Satz des Zaren befehlsgemäß zu überbringen. Jedoch konnte er es nicht. Balaschow wurde im entscheidenden Augenblick von einem unklaren Impuls, eben jenem »verworrenen Gefühl« beeinflusst und gehemmt. Er »wollte« zwar seine Pflicht tun, heißt es. Aber dieses »Wollen« war im entscheidenden Augenblick höchstens noch eine blasse Regung, es löste keine Handlung aus, es wurde nicht handlungswirksam, wie wir in der Philosophie sagen. Zu diesem Zeitpunkt war es daher kein Wollen im typischen, philosophisch eingebürgerten Sinn mehr, sondern nur noch etwas wie Sich-verpflichtet-Fühlen, Für-besser-Halten oder ähnlich. Stattdessen müssen wir den Text so deuten, dass in eben diesem Augenblick, als die Pflichterfüllung gefordert war, unter dem Einfluss jenes »verworrenen Gefühls« sich quasi im Spalt einer Sekunde ein schwächeres Wollen bildete. Dieses löste wirklich eine Handlung aus, nämlich dass der General einen milderen Satz sprach, als ihm aufgetragen war. Bonaparte erfuhr nichts von Alexanders fester Entschlossenheit, ließ gegen Balaschow noch eine Flut bramarbasierender Tiraden los, und seine Armee marschierte weiter – zur Verwüstung weiter Teile Russlands und in ihren eigenen Untergang.

      Handeln aufgrund eines kurzfristigen eigenen Wollens, das die Person in langfristiger Perspektive und zu anderen Zeitpunkten selbst für falsch erachtet und missbilligt, findet sich allgegenwärtig und alltäglich. Es ist uns allen aus der Beobachtung unserer selbst wie auch anderer vertraut. Wir sprechen davon, dass viele Menschen dazu neigen,

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