Wie frei wir sind, ist unsere Sache. Ulrich Pothast
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2. Der Wille ist kein innerlich auffindbarer Gegenstand
Kommen wir noch einmal auf Balaschow zurück. In Tolstois Darstellung erscheint er als verlässlicher Offizier. Er eignet sich als Beispiel für uns vor allem, weil sein Versagen für ihn unerwartet kommt, und weil der Erzähler über die möglichen Ursachen dieses Unerwarteten kaum mehr sagen kann, als dass es auf »ein verworrenes Gefühl« zurückging. Es sollte klar sein, dass jeder Person ein solches Versagen unterlaufen kann. Dies rechtfertigt eine weitreichende These: Niemand kann sich seiner personeigenen Freiheit zum tatsächlichen Ausführen aller Handlungen sicher sein, die er im Vorfeld einer beliebigen Situation für richtig oder verpflichtend hält und in diesem Vorfeld tun will. Es ist immer möglich, dass in der Situation selbst, unmittelbar vor der anvisierten Tat, unerwartet »verworrene Gefühle« oder Elemente ganz verschiedener Art eintreten und dazu beitragen, dass in Sekunden, ja Bruchteilen von Sekunden sich ein anderes Wollen bildet und dann ein anderes Tun erfolgt als zuvor entworfen. Über jene verschiedenen Elemente wird noch zu sprechen sein.
Die vorhin gegebene Deutung für das Versagen des Generals enthält eine Vorentscheidung, die ausdrücklich notiert werden soll. Es ist philosophische und auch juristische Konvention, dass wir zu menschlichem Handeln, wenn es den vollen Sinn des Wortes »Handeln« erfüllen soll, stets ein darauf gerichtetes Wollen oder einen darauf gerichteten »Willen« oder beides annehmen. Andernfalls würden wir von einer bloßen Körperbewegung ohne Absicht sprechen, vergleichbar etwa dem Lidschlagreflex, einem krankhaften Zucken, einer Fehlleistung im Freudschen Verständnis, oder ähnlich. Dergleichen liegt bei Balaschow aber nicht vor. Der General »wollte« eigentlich Bonaparte den Satz seines Zaren sagen, sagte aber unter dem Druck diverser Situationselemente einen anderen, der die relevante Einstellung des Zaren nur in schwächerer, weniger entschiedener Form übermittelte. Das kann nicht als Reflex, Zucken, Freud’sche Fehlleistung oder dergleichen aufgefasst werden. Da es als eine Handlung des Generals dargestellt wird, und da er seinem Zaren dafür rechenschaftspflichtig ist, deuten wir es als gewolltes Tun. Dieses Tun fiel unter dem Einfluss ungünstiger Faktoren wie Müdigkeit, Einschüchterung, Verblüffung über Napoleons Benehmen anders aus, als der General es im Vorfeld beabsichtigte. Man kann hier daran denken, dass es Willenshaltungen als Dispositionen gibt wie beim Hinleben und Hinarbeiten auf langfristige Ziele. Dann kann man sagen, dass Balaschow zwar in diesem Sinn zuvor die Willens-Disposition hatte, den richtigen Satz zu sprechen, dass im kritischen Augenblick sich aber ein anderes, jetzt handlungsführendes, aktuelles Wollen bildete, so dass er den schwächeren Satz sprach.
Die Ansicht, dass zu einer Handlung im vollen Wortsinn ein darauf gerichtetes Wollen gehört, dürfte philosophisches Gemeingut im westlichen Kulturkreis sein, wie immer die Wörter lauten mögen. Im Einzelnen haben menschliches Wollen und menschlicher Wille die Philosophen oft in Verwirrung gebracht und sind geeignet, auch weiterhin Verwirrung zu stiften. Deshalb ist im Vorfeld der kommenden Überlegungen sehr kurz über den Sprachgebrauch zu reden, so dass deutlich ist, was in diesem Buch »Wollen« einerseits und »Wille« andererseits heißen sollen.
Wenn wir in der Erinnerung eine beliebige, auf eine bestimmte Handlung hin orientierte Phase unseres Lebens wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit bringen, entdecken wir dabei nirgendwo eine Gegenständlichkeit, die wir »Wille« nennen könnten. Auch der Versuch, auf den gegenwärtigen eigenen Bewusstseinszustand in der sogenannten Präsenzzeit konzentriert zu achten, fördert nichts Gegenständliches oder Gegenstandsartiges zutage, wofür das Wort »Wille« sinnvoll stehen könnte. Allerdings befinden wir uns vor einer Handlung oft in einer seelisch-körperlichen Gesamtverfassung, in der wir statt etwas Gegenständlichem namens »Wille« etwas Zuständliches bemerken, das wir »Wollen« nennen können. Wenn ich zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas will, z. B. jetzt dieses Kapitel hier zu schreiben, kann ich sagen, dass meine bewusste Person in merklicher Weise auf dieses Ziel hinstrebt. Ich spüre irgendwie, dass ich dieses Kapitel schreiben will. Ich habe das, was ich zum Thema sagen möchte, bislang erst unklar vor mir und strebe danach, es klar in Worte zu bringen. Selbst das, was ich hier »Streben« nenne, ist nur eine irgendwie zu spürende Besonderheit meines bewussten Gesamtzustandes, nicht aber eine klar abgegrenzte, isolierte Gegebenheit meines inneren Lebens. Ludwig Wittgenstein, der größte und scharfsinnigste Kritiker unserer herkömmlichen Bewusstseins-Sprache, schrieb über eine vergleichbare Situation: »Soll ich sagen, wer eine Absicht hat, erlebt eine Tendenz?«1 Wittgenstein deutete mit der in der Frage ausgedrückten Unsicherheit recht gut an, wie schwer es ist, das Erleben eigener Wollenszustände genau zu beschreiben. Unsere Sprache hat sich historisch für die Zwecke des Überlebens in der Außenwelt gebildet; für die genaue Erfassung des bewussten Inneren eignet sie sich herzlich schlecht. Aber obgleich wir unser Wollen schwer beschreiben können, haben wir doch, wenn wir jetzt und hier etwas wollen, selten Zweifel daran, dass wir es wollen. Eine Ausnahme wäre unbewusstes Wollen, z. B. im Freudschen Sinn, aber das ist hier nicht Thema.
Besonders deutlich erlebbar ist aktuelles Wollen, wenn es eine Ablehnung fremder Erwartungen darstellt, zum Beispiel sich auf etwas richtet, was die Person nicht mit sich geschehen lassen will. Wenn mich auf einer Party jemand aufdringlich mit einem Gerede überzieht, auf das ich eingehen soll, das ich aber leer, belanglos und öde finde, dann spüre ich deutlich: Ich will das nicht. Die gespürte Ablehnung, das ablehnende Wollen, wird über kurz oder lang in mir so stark, dass ich mich mit ein paar Worten von dieser Person löse und woanders hingehe. Ähnlich werden Menschen, die unangenehm berührt sind davon, dass ihnen jemand in aufdringlicher Form körperlich nahe kommt, sehr klar spüren, dass sie dies nicht wollen. Die dergestalt Bedrängten werden dann meist versuchen, sich zu entziehen, zu wehren, zu kämpfen, zu fliehen, vielleicht Hilfe zu holen. Wollen, in dem sich der eigene Widerstand gegen eine von außen kommende Zumutung geltend macht, gehört zum Deutlichsten, was sich in unserem spürenden Leben überhaupt kundtut. Trotzdem finden wir dabei nichts Gegenständliches oder Gegenstandsartiges, das wir »Wille« nennen könnten. Der Wille ist kein innerlich auffindbarer Gegenstand.
Wollen hingegen ist etwas innerlich Auffindbares. Zwar ist es gleichfalls kein innerer Gegenstand, wohl aber ein bemerkbarer Gesamt-Zustand der Person, ein konzentriertes Streben, das sich auf etwas Bestimmtes richtet. Wollen ist nicht gegenständlich oder gegenstandsähnlich, sondern auf übergreifende, vieles einfärbende Weise zuständlich. Es ist in dieser Hinsicht einer deutlich gespürten Freude oder einem ebenso gespürten Ekel vergleichbar. Deshalb ist »Wollen« im Gegensatz zu »Wille« auch kein Wort der bloßen Theorie, sondern bezieht sich im Fall aktuellen Wollens auf etwas, das die Person als einen Zug ihrer individuellen Wirklichkeit jetzt und hier spüren und in diesem Sinn buchstäblich als real erleben kann. Wir können sagen, das aktuelle, jetzt und hier sich geltend machende Wollen ist als etwas Wirkliches im Erleben der Person ausweisbar. Dadurch hat das Wort »Wollen« für mich als erlebende Person unzweifelhaft einen Realitätsbezug. Hingegen entdecke ich in meinem Erleben etwas, das ich wie einen inneren Gegenstand mit »Wille« ansprechen könnte, nicht. Einen unmittelbaren Realitätsbezug für dieses Wort, das grammatisch wie ein inneres Ding daherkommt, kann ich nicht feststellen. Die Sprache spielt uns Streiche.
Wohl aber lässt