Wie frei wir sind, ist unsere Sache. Ulrich Pothast
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Mit der Illusion, wir könnten auf unser Wollen direkt zugreifen und es bestimmen, wie wir auf die Muskeln zugreifen können, die eine Handlung auslösen, haben sich Philosophen schon früh auseinandergesetzt. So schreibt Gottfried Wilhelm Leibniz: »Was das Wollen selbst betrifft, so ist es unrichtig, zu sagen, dass es ein Gegenstand des freien Willens sei. Wir wollen handeln, sagen wir zu Recht, aber wir wollen keineswegs wollen, denn sonst könnte man weiterhin sagen, wir wollen den Willen haben zu wollen, und das würde ins Unendliche fortgehen. Wir folgen auch nicht immer dem letzten Urteil des praktischen Verstandes, indem wir uns bestimmen zu wollen – aber wir folgen immer, indem wir wollen, dem Ergebnis aller Neigungen, die kommen, sei es von Seiten der Gründe, sei es von Seiten der Leidenschaften, was oft ohne ein ausdrückliches Urteil des Verstandes geschieht.«1.
Die drastischsten Worte gegen die Idee, wir könnten unseren Willen willentlich unmittelbar bestimmen, finden sich wohl bei Schopenhauer. Der Leser sei auf seine Darstellung verwiesen: Über die Freiheit des Willens, Kap. III.2 Dort wird auch die eben angesprochene, enge Verbindung eines klar ausgebildeten Wollens mit der eigenen Persönlichkeit, wie sie jetzt und hier ist, hervorgehoben. Rufen wir uns noch einmal unsere junge Frau, die Tänzerin, aber keineswegs Lehrerin werden will, ins Gedächtnis. Es ist möglich, dass wir sie in der Diskussion mit ihren Eltern sagen hören »Ja, ich könnte Lehrerin werden, wenn ich wollte, aber das Problem ist, dass ich nicht will. Und mein Wollen kann ich nicht einfach so ändern, ich will eben Tänzerin werden, so bin ich nun einmal und nicht anders.« Das klar und intensiv erlebte Wollen gehört in so zentraler Rolle zur Person, dass der betreffende Mensch den Eindruck haben kann, sich als ganze Person ändern zu müssen, wenn er ein anderes Wollen ausbilden sollte.
So dramatisch muss es sich nicht immer darstellen. Aber ein Weiteres, worauf schon Leibniz hinweist, zeigt sich hier als zielführend. Er sagt, indem wir wollen, »folgen« wir dem Ergebnis aller Neigungen, die kommen, von Seiten der Leidenschaften wie auch der Gründe (»raisons«). Wenn wir das Wort »Neigungen, die kommen« durch etwas Umfassenderes ersetzen, z. B. »Faktoren, die bei unserer Willensbildung zusammenwirken«, gelangen wir auf eine aussichtsreiche Spur. Es kann sehr wohl geschehen, dass sich das Wollen der jungen Frau ändert – aber nicht durch direkten Zugriff wie auf die Muskeln ihrer Arme oder Beine, sondern durch das Auftreten mittelbar wirkender Faktoren. In unserem Beispiel kann es sich um das eigene Nachdenken der Frau handeln, aber auch um neue Argumente, die sie von ihren Eltern hört, die Nachricht vom traurigen Schicksal einer anderen Person mit gleichem Lebensziel, oder um Sonstiges wie das »verworrene Gefühl« beim General Balaschow. Soweit diese beispielhaft erwähnten Faktoren in der Tat auf die eigene Aktivität der jungen Frau zurückgehen, wie ihr eigenes Nachdenken, beeinflusst die Frau dadurch erfolgreich ihren Willen. Sie tut dies jedoch nicht durch inneren Befehl, Bestimmungsakt oder ähnlich, sondern sie wirkt auf indirektem Weg darauf ein. Mit ihrem Nachdenken und der Abwägung von Argumenten schafft sie einen Einflussfaktor, von dem sie im Vorfeld nur weiß: Er wird ihr aktuelles Wollen und/oder ihren als Disposition vorhandenen Willen möglicherweise verändern – möglicherweise aber auch nicht. Ob sie mit ihren Gedanken ihr Wollen im Sinn eben dieser Gedanken tatsächlich beeinflusst, weiß sie erst, wenn sie spürt, wie ihr Wollen sich ändert oder geändert hat. Jeder von uns dürfte Fälle in Erinnerung haben, bei denen das eigene Denken etwas Bestimmtes als richtig hervorhob, das eigene Wollen aber dem Denken nicht entsprach, sondern sich auf ein anderes Handeln richtete. Das können wir als persönliches Versagen deuten oder als irrationale Regung oder noch anders. Jedenfalls bezeugen solche Erlebnisse, dass unser Denken keinen unmittelbaren Zugriff auf das eigene Wollen hat, sondern allenfalls die Chance bietet, dass das eigene Wollen sich ihm gemäß bildet. Je klarer und überzeugender das eigene Denken ausfällt, desto wahrscheinlicher dürfte es sein, dass das Wollen ihm folgt. Ein umwegloser, direkt lenkender Zugriff entsteht dadurch nicht.
Es gibt etwas wie menschliche Selbstformung und ein Werden der Person zu sich. Es gibt beides aber nicht als unmittelbares Gestalten eigenen Willens, als sei der eine knetbare Masse, auf die wir nur innerlich zuzugreifen und sie nach eigener Vorstellung zu modellieren brauchten. Vielmehr ist jene Selbstformung ein Prozess, den wir allein durch Maßnahmen beeinflussen können, deren Wirken wir nicht Punkt für Punkt verfolgen und erst recht nicht sicher voraussagen können. Wir haben festgestellt, dass unser Wille auf innige Weise zu unserer Person gehört. Schon die Alltagserfahrung weiß, dass ein Verändern der eigenen Person bei weitem nicht so prompt und verlässlich erfolgt, wie es das Steuern mit einem sicher funktionierenden Mechanismus wäre. Vielmehr braucht es hier vor allem gute Kenntnis der für solches Verändern geeigneten Mittel und ein geschicktes, ausdauerndes, stets zu erneuter Anstrengung bereites Arbeiten mit klarem Denken und ruhiger Hand. So, wie wir unsere Person nicht unmittelbar austauschen, sondern nur über längere Zeit hinweg durch indirektes Einwirken verändern können, ist es auch mit unserem Willen: Wir können dieses zentrale Element unseres Personseins nicht in einem Akt machen, wie wir es haben möchten – so wenig wie wir uns als Person in einem Akt machen konnten.
1. Notwendige Unbestimmtheit. Unsere Situation unabtretbarer Wahl
Der Mathematiker Hermann Weyl, Professor in Zürich, hatte 1923 einen ehrenvollen Ruf auf einen Lehrstuhl an der Universität Göttingen und musste sich entscheiden, ob er den Ruf annehme oder ablehne. Er zögerte die Entscheidung sehr lange hinaus, weil Für und Wider sich die Waage hielten, auch weil sehr vieles für seinen Lebenslauf von dem Ausgang der Sache abhing. Über den Tag, an dem die Entscheidung schließlich fiel, berichtet er: »Als sich die Entscheidung nicht länger aufschieben ließ, lief ich im Ringen darum mit meiner Frau stundenlang um einen Häuserblock herum und sprang schließlich auf ein spätes Tram, das zum See und Telegraphenamt hinunterfuhr, ihr zurufend: ›Es bleibt doch nichts anderes übrig als annehmen.‹ Aber dann muss es mir das fröhliche Treiben, das sich an diesem schönen Sommerabend um und auf dem See entfaltete, angetan haben; ich ging zum Schalter und telegraphierte eine Ablehnung.«1
Weyl ist kein zweiter Balaschow. Er hatte nicht über viele Tage hinweg eine klare Vorstellung von dem, was er tun wolle und werde, sondern suchte stattdessen über viele Tage, ja Wochen hin die rechte Entscheidung. Als er sie getroffen zu haben glaubte, hatte er sie doch noch nicht getroffen. Vielmehr entschied er sich buchstäblich im letzten Augenblick anders. Er ist ein sprechendes Beispiel für unsere Unfähigkeit, eigene Entscheidungen wirklich vor dem allerletzten Augenblick, dem Zeitpunkt des eigenen Handelns, als endgültig feststehend zu wissen oder gar vorauszusagen. Das gilt sogar noch für die begonnene Handlung selbst, wenn sie ein in der Zeit erstrecktes, gegliedertes Tun ist wie etwa das Sprechen eines Satzes oder mehrerer. Auch hier wissen wir nicht wirklich im Voraus, ob wir eine begonnene Sprachhandlung gemäß unserem Entschluss zu Ende bringen werden – oder ob wir wie Balaschow unterwegs vom zuvor gewollten Text abweichen und dann etwas anderes sagen als das zuvor Beabsichtigte.
Die Tätigkeit der Philosophen, die sich mit der Frage nach der Willensfreiheit befassten, war im Ganzen nicht nutzlos. Sie hat ungewollt auch für das Gesamtbild personeigener Freiheit Wichtiges beigetragen. Es kam nämlich im Kontext jener Arbeiten neben dem Mainstream metaphysischer Überhöhungen des Menschenbildes auch eine Erkenntnis zustande, die für unsere jetzigen Zwecke große Relevanz