Wie frei wir sind, ist unsere Sache. Ulrich Pothast

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Wie frei wir sind, ist unsere Sache - Ulrich Pothast

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Entscheiden und Tun selbstbestimmt zu wissen. Wir sind interessiert daran, die oft zu hörende These der perfekten Vorausbestimmung all unseres Tuns durch personfremde Instanzen zurückweisen zu können. Wir sind natürlich besonders stark daran interessiert, unsere personeigene Freiheit bewahren und weiter ausdehnen zu können. Dann sehen wir uns auf einem Weg, auf dem wir dem menschlichen Ziel größtmöglicher Selbstgestaltung schrittweise näher kommen.

      Eine geläufige Erkenntnis, an die wir uns auch in der Wissenschaft halten, lautet: »Was für unsere kognitiven Systeme unfassbar ist, existiert nicht für uns.«1 Wir richten uns nach dieser Erkenntnis an einer Vielzahl von Punkten, insbesondere da, wo prinzipielle Grenzen des wissenschaftlichen Zugriffs erkennbar sind. Beispiele sind die subatomare Physik und die Kosmologie. In der Physik sprechen wir von einem Indeterminismus da, wo es für uns aus prinzipiellen Gründen unmöglich ist, deterministische Verhältnisse, sicher zu erkennen. Die Frage, ob es deterministische Verhältnisse in Bereichen, die jenseits unserer Erkenntnismöglichkeiten liegen, nicht trotz allem gibt (wie einige meinen), ist keine wissenschaftlich entscheidbare Frage. Denn sie fragt nach etwas, das für wissenschaftliche Erkenntnis prinzipiell unzugänglich ist. Ähnlich verfahren wir in der Kosmologie: Zu fragen, was »vor« dem Urknall war, ist keine Frage der Wissenschaft, weil die Möglichkeiten wissenschaftlicher Erfassung, z. B. die zeitliche Ordnungsform, für uns überhaupt erst mit dem Urknall entstanden. »Vor« diesem Ereignis existiert für uns nichts, weil unsere kognitiven Systeme schon dieses »vor« nicht durch erkennenden Zugriff einlösen können.

      Zwar nicht dasselbe, aber doch etwas entfernt Ähnliches gilt in sehr viel kleinerem Format für persönliche Entscheidungssituationen: Für die kognitiven Systeme der Person vor einer Entscheidung ist das Ergebnis dieser Entscheidung nicht erfassbar, solange die Entscheidung nicht gefallen und die Handlung zu Ende gebracht ist. Hermann Weyl konnte den Ausgang seines Entscheidungsprozesses prinzipiell nicht im Voraus wissen, wenn er auch im Augenblick des Aufspringens auf die Straßenbahn und des Zurufs an seine Frau das geglaubt haben mag. Angenommen, Weyl wäre Determinist gewesen und hätte das Ergebnis des Zusammenwirkens von Faktoren, die seine Entscheidung mutmaßlich »determinierten«, im Voraus wissen wollen: Dann hätte er als Wissenschaftler sich sagen müssen, dieses Ergebnis sei für seine kognitiven Systeme im Voraus prinzipiell unerfassbar. Eine »Determination« seines Entscheidungsprozesses existiere für sein Wissen solange nicht, wie dieser Prozess nicht durch eine fertige Tat (oder ein ebensolches Unterlassen) zu Ende gekommen sei. Jeder Versuch des erkennend-analysierenden Zugriffs auf den Entwicklungsprozess seiner Entscheidung hätte diesen Prozess beeinflussen können. Damit wären vermeintliche Erkenntnisse über seinen Verlauf wie auch schon jede Vermutung darüber unverlässlich geworden.

      Daher war Weyl für seine Erkenntnisperspektive im gesamten Verlauf seiner Entscheidungsbemühungen allein selbst die Instanz, aus der die Entscheidung hervorgehen würde. Er stand in der persontypischen Situation unabtretbarer Wahl. Für seine Erkenntnis war seine ganze lebende Person, wie sie auf die Straßenbahn sprang und zum Telegraphenamt fuhr, der Ursprung seiner kommenden Wahl und Handlung.

      Zwar erwähnt Weyl selbst äußere Umstände, die zu seiner Willensbildung beigetragen haben könnten, z. B. die freundliche Stimmung am Seeufer. Aber der Beitrag solcher Faktoren ist nur möglich, wenn sie in der Person auf etwas treffen, was durch sie beeinflussbar ist. Sonst bleiben sie irrelevant. Und Faktum sowie Größe eines solchen Beitrags sind im Zeitfenster des Entscheidungsprozesses für die Person selbst ebensowenig verlässlich erkennbar wie Verlauf und Schlusspunkt dieses ganzen Vorgangs. Im Übrigen gibt es in dem Zeitraum, in dem sich eine Entscheidung formiert, immer ungezählt viele äußere Umstände, die da sind, aber ohne Einfluss bleiben. Auch über deren Relevanz oder Irrelevanz kann sich eine Person vor ihrem Tun kein sicheres und vollständiges Bild machen.

      Das Sich-Bilden von Weyls Wollen war für seinen direkten Zugriff unverfügbar, das Ergebnis trat für ihn unversehens und unerwartet ein. Trotzdem wurde er nicht von fremden Mächten zu seiner Ablehnung des Göttinger Rufes bestimmt. Vielmehr gingen diese Entscheidung und die unmittelbar folgende Handlung aus einem komplexen Prozess in oder an der ganzen Person Hermann Weyl hervor. Es ist sogar sinnvoll zu sagen, Weyl war in diesem Zeitfenster neben vielem anderen, das zu ihm gehörte, dieser Prozess selbst. Von Verlauf wie Ergebnis dieses Vorgangs konnte Weyl mit allem Recht sagen: »Das war ich. Der Vorgang, in dem sich meine Entscheidung formte, und das Niederschreiben auf dem Formular waren zu dieser Zeit zentrale Züge meines Lebensprozesses. Den kannte ich zwar als Ganzen nicht, wie ich auch mich selbst als ganzes Lebewesen nicht kennen kann. Aber trotz meiner Unkenntnis bin ich dieses Lebewesen und war ich mit allem, was zu mir gehört, selbst die Instanz, aus der mein Entscheiden und Tun hervorging.« Hätte er so gesprochen, dann wäre dies ein passender Ausdruck für die Unabtretbarkeit seiner Wahl gewesen und für seine unausweichliche Urheberschaft beim eigenen Entscheiden und Tun.

      Das Bewusstsein, selbst der Urheber eigener Entscheidungen und Taten zu sein, ist eine wertvolle Einstellung zum eigenen Leben. Je stärker das Bewusstsein eigener Urheberschaft, desto deutlicher ist im allgemeinen auch in Entscheidungslagen das Bewusstsein der eigenen Freiheit, alle Handlungen zu tun, die der eigenen Person physisch möglich sind und auf die ihr Wollen sich richtet. Zu diesem Bewusstsein trägt die Unvoraussagbarkeit eigenen Entscheidens und Tuns, die bis zum Vollenden der Handlung besteht, nachdrücklich bei. Stellen wir uns diese Unvoraussagbarkeit und die damit verbundene Unabtretbarkeit unserer Wahl nur oft genug und deutlich genug vor Augen, so können wir eine Tendenz entwickeln, die Handlungs-Freiräume der eigenen Person in größerer Ausdehnung zu sehen. (Sie erstrecken sich meist viel weiter, als wir zu denken geneigt sind). Vor allem können wir eine Tendenz entwickeln, diese Freiräume durch bewusstes Tun auch tatsächlich zu nutzen, statt unser Handeln in den Bahnen einer gedankenlosen Routine dahinlaufen zu lassen. Je freier wir uns sehen, desto freier werden wir in der Wirklichkeit unseres Tuns. Das ist eine alte Erkenntnis, deren Wahrheitsgehalt jeder an sich selbst überprüfen kann. In größerem Maßstab lässt sie sich durch einen Blick auf diejenigen Phasen der europäischen Geschichte stützen, in denen ganze Generationen im Hochgefühl ihrer Freiheit Taten vollbrachten, an die andere Generationen nicht zu denken wagten. Die ersten Jahre der Französischen Revolution sind das sprechendste Beispiel hierfür, aber nur eines von vielen. Sehr eindrucksvoll stellt sich der reale Befreiungseffekt intensiven Freiheitsdenkens auch in den Künsten dar, speziell in der Kunst der Moderne: Künstler und Künstlergruppen, die bewusst das Sich-Befreien von den Zwängen des Herkommens anzielten, haben auf verschiedenen Gebieten mit Erfolg freiere Kunst geschaffen, freier, als man sie sich bis dahin auch nur vorstellen konnte. Nicht nur eine freiheitsorientierte Mentalität im Sinn des beherzten Ausgreifens auf den ganzen Raum eigener Handlungsmöglichkeiten wird durch das Bewusstsein eigener Urheberschaft gefördert. Auch für personeigene Freiheit im spezifischen Sinn der Übereinstimmung eigenen Für-richtig-Haltens und faktischen Tuns öffnet ein ausgeprägtes Freiheitsbewusstsein die Tür zu realer Freiheitserweiterung.

      Nach getaner Tat stehen wir nicht mehr vor einer Mehrzahl von Alternativen, unter denen wir wählen müssen, sondern nur noch vor der einen, faktisch zustande gekommenen Handlung. Für sie gilt nicht die gleiche Erkenntnisbeschränkung, die vor ihrer Ausführung für uns bestand. Vielmehr können wir die Eigenschaften der Handlung, die wir getan haben, danach im Prinzip ähnlich gut erkennen wie ein äußerer Beobachter. Die folgenreiche Asymmetrie zwischen Beobachtersicht und Sicht des Handelnden, die vor der Handlung bestand, besteht nach dieser nicht mehr. Wir können dann auch Erkenntnisse eines eventuellen Beobachters über ursächliche Zusammenhänge, die zur Tat beitrugen, ohne epistemische Vorbehalte aufnehmen und auswerten. Wahl und Handlung sind geschehen; ihr Verlauf ist durch Informationen darüber nicht mehr beeinflussbar.

      Nach fertiger Tat steht die Gewissheit, selbst gewählt zu haben, sehr klar der Tendenz entgegen, die Handlung von der eigenen Person wegzuschieben und anderen Instanzen anzulasten. Kandidaten

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