Wie frei wir sind, ist unsere Sache. Ulrich Pothast

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Wie frei wir sind, ist unsere Sache - Ulrich Pothast

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immer im Voraus verfügt. Gewöhnlich berufen sich Fatalisten heute auf die (eigentlich ins 19. Jahrhundert gehörende) Idee eines universellen Determinismus für alle Ereignisse in der Welt mit der vermeintlichen Folgerung, alles, was geschieht, sei von Anfang der Welt an festgelegt. Der Fatalismus berücksichtigt nicht die besonderen Erkenntnisbedingungen eines jeden Menschen, der vor einer zu treffenden Entscheidung bzw. auszuführenden Handlung steht. Aus dem Gedanken eines universellen Determinismus folgt nämlich in keiner Weise, dass ich mit gutem Recht sagen könnte: »Wie ich mich entscheiden werde und was ich tun werde, liegt sowieso schon fest. Alle Anstrengung ist hier sinnlos.« Im Gegenteil: Wenn ich vor einer möglichen Handlung stehe und nichts mich offenkundig hindert oder zwingt, bin unter den für mich geltenden Erkenntnisbedingungen ich selbst die Instanz, von der die Richtung meines Handelns abhängt. In diesem Sinn bin ich in diesem Zeitfenster für meine Erkenntnis frei, jede der sich jetzt bietenden Handlungsalternativen zu wählen. Gegen manche Handlungen mag ich Widerstände haben, zu anderen mag ich mich hingezogen fühlen, vor vielem mag ich mich fürchten, einiges mag ich verabscheuen, bestimmte Handlungen, die mir schwer fallen, mag ich als meine Pflicht erkennen: Solange nichts mich erkennbar und unüberwindlich zwingt oder hindert, muss ich mich unter den Bedingungen meiner Erkenntnisperspektive jetzt und hier so verstehen, dass mir jede Handlungsrichtung offensteht, für die ich nicht manifest bestehende, unüberwindliche Hindernisse erkenne.

      Natürlich erstreckt sich meine Sicherheit, jede Handlung ergreifen zu können, die mir nicht offensichtlich unmöglich ist, nicht darauf, dass ich das gewählte Tun auch erfolgreich zu Ende bringe. Eine Handlung hat stets eine zeitliche Ausdehnung, auch wenn sie als Tun eines bloßen Augenblicks erlebt wird. Innerhalb dieses Zeitfensters, und sei es noch so winzig, können immer unerwartete Hindernisse auftreten und das Zu-Ende-Kommen meiner Handlung unmöglich machen. Diese Hindernisse können überraschend von außen her kommen und meinen Handlungsversuch verzögern, in andere Richtung lenken, zum Stillstand bringen oder es sonst wie machen, dass ich meine gewählte Tat nicht vollende. Die Hindernisse können auch von meinem Körper, meiner Psyche oder beidem herrühren und mein Handeln unvoraussagbar beeinflussen, so dass es fehlgeht oder zum Stillstand kommt. Bekannt ist das Beispiel der Pianisten, denen ein bestimmter Finger plötzlich nicht »gehorcht«, so dass sie etwas anderes spielen als beabsichtigt. Und jeder kennt das Eigentor des Verteidigers beim Fußball, der sich hinterher vor Scham krümmt und nicht verstehen kann, wie ihm das passieren konnte.

      Die Unmöglichkeit, vor eigenem Entscheiden, Handeln und natürlich auch vor der Ausbildung des zugehörigen Wollens das Gefüge der dabei kausal relevanten Faktoren zu überschauen, passt zu einer Erscheinung, die oft vernachlässigt wird: Wir können manchmal eigenes Entscheiden und das Sich-Geltendmachen entsprechenden Wollens im unmittelbaren Nachhinein erinnern als etwas, das auch für uns selbst überraschend eintrat. So ist es Hermann Weyl ergangen: Er fuhr zum Telegraphenamt in der Absicht, ein Telegramm mit der Annahme des Rufes aufzugeben. Stattdessen telegraphierte er eine Ablehnung, und zwar nicht aus Versehen, sondern aus eigener Initiative. Er hat uns nicht überliefert, wie kurz die Zeit war, die zwischen der Ausbildung des neuen Wollens und dem Niederschreiben der entsprechenden Worte auf dem Telegrammformular vergangen ist. Es könnte sein, dass er sich noch, während er schon beim Schreiben war, für ihn selbst überraschend um-entschied, weg vom Annehmen des Rufes und hin zum Ablehnen.

      Handlungsrelevante kausale Verhältnisse stellen sich im Bewusstsein nur höchst unverlässlich dar, oder gar nicht. Das gilt vor allem für die Faktoren, die zu Wollen bzw. Entscheiden nur verdeckt beitragen, d. h. sich der suchenden Aufmerksamkeit nicht offen darbieten. Weyl hat sich in unabtretbarer Wahl gegen Göttingen entschieden; unversehens fand er sich als einen, der im Modus eigener Aktivität Göttingen ablehnte und Zürich bevorzugte. Aber wie dies alles zustande kam, kann er nicht im Einzelnen sagen. Trotzdem spricht er von der Entscheidung als seiner eigenen, er war es, der eine Ablehnung telegraphierte. Auch den äußeren Faktor des Treibens auf dem See erwähnt er als etwas, das es ihm angetan haben müsse.

      Gewiss konnte Weyl das Sich-Ausbilden seines Wollens bzw. Entscheidens im fraglichen Zeitraum nicht von einer höheren Warte aus überschauen und lenken. Unser Wollen formiert sich, unser Denken, Fühlen, Wahrnehmen und vieles andere trägt dazu bei, aber wir übersehen diesen Gesamtprozess nicht wie höhere, dies alles kontrollierende Ingenieure. Und vor allem steuern wir das Sich-Bilden unseres Wollens nicht wie solche Ingenieure. Wir stehen, während sich unser Wollen formiert, nicht an einem über unserem Bewusstseinsleben angebrachten Regelpult und organisieren von dort das komplexe Zusammenwirken aller relevanten Zustandsgrößen. Wir können auch in das Sich-Ausbilden unseres Wollens nicht von einem solchen höheren Standpunkt her nach Maßgabe eines ebenfalls höheren eigenen Wollens gezielt und mit Ergebnis-Sicherheit eingreifen.

      Zwar können wir unser Entscheiden und Tun im Prinzip nachträglich analysieren und oft daraus wichtige Einsichten gewinnen. Für die Analyse von Vergangenem bestehen nicht die gleichen, letztlich unlösbaren Erkenntnisprobleme, die für die Voraussage künftiger eigener Handlungen aus der Perspektive des tätigen Selbst bestehen. Jedoch sind wir von einer vollständigen kausalen Analyse vergangener Wollensbildung und vergangenen Entscheidens extrem weit entfernt. Wenn wir eine Entscheidung gut vorbereitet haben, können wir oft eine schlüssige Begründung dafür liefern, und diese Begründung mag auch unsere wirklichen Gründe darstellen, soweit uns bekannt. Wir können sogar oft etwas benennen, das bei einer Entscheidung nach unserer Meinung »den Ausschlag gab«. Dies ist schon sehr viel, aber gewiss nicht alles. Auch im Nachhinein ist uns eine vollständige Übersicht über die Gesamtkonstellation kausal beteiligter Faktoren nicht zugänglich.1

      Leider haben gute Gründe, die ich für eine bestimmte Entscheidung sehen mag, auch beileibe nicht die Kraft, diese Entscheidung mit gesetzmäßiger Verlässlichkeit herbeizuführen. Sonst würden wir beim Handeln immer im Einklang mit unseren vorher gefundenen Begründungen bleiben – was nicht der Fall ist. Selbst bei sehr guten Gründen für eine bestimmte Entscheidung kann es geschehen, dass wir uns plötzlich im Modus eigenen Wollens als ganz anders Entscheidende erleben. Unsere Entscheidungen sind uns nicht nur in einem strengen Sinn unvoraussagbar. Sie folgen auch nicht zwangsläufig den Überlegungen, die wir zuvor angestellt haben, sondern behalten auch mit Blick auf unsere eigenen Gründe ein Moment potentieller Überraschung. Es kommt vor, dass sich kurz vor dem Zeitpunkt des Entscheidens fast blitzartig ganz andere Gründe geltend machen als die zuvor erwogenen. Sie können unerwartet eine andere Entscheidung richtig erscheinen lassen als die früher ins Auge gefasste. Diese unerwartete Entscheidung mag auch wohl durchdachten Gründen und langfristigen eigenen Grundsätzen zuwiderlaufen – im relevanten Augenblick hat sie doch neue, besondere Gründe und damit auch ein Überzeugungsmoment für sich.

      Der Übergang der ganzen Person vom Zustand der Indifferenz in einen Zustand, in dem sie entschieden auf eine bestimmte Handlung hinstrebt, dieses Tun also aktuell will, geschieht typischer Weise so, dass sie sich dabei als aktiv erlebt. Das eben jetzt spürbare Wollen hat – besonders auffällig bei plötzlichem Eintreten – die vorhin genannte Aktivitätsfärbung, zusammen mit Meinigkeit und Zentralität. Wir erleben unsere Entscheidungen als unsere, nicht als fremde Gewalt, die in unser Leben einbricht.

      Wir entscheiden uns und gehen wollend zu unseren Handlungen über im Modus eigenen Aktivseins. Aber wir tun dies ohne vollständige Übersicht über die kausal relevanten Faktoren, durch die wir dahin gelangen, und vor allem ohne die Gesamtheit dieser Faktoren von höherer Ebene her selbst zu steuern. In diesem Sinn sind wir uns selbst bei unserem Entscheiden und dem aktuellen Übergang zur eigenen Handlung trotz Meinigkeit, Aktivitätsfärbung und Zentralität auf typische Weise unverfügbar. Denn wir sind zwar in der Situation unabtretbarer Wahl diejenigen, die entscheiden, wollen, handeln, aber wir verfügen dabei nicht noch einmal über uns von einem höheren Fahrersitz aus.

      Die Unverfügbarkeit für direkten Zugriff ist Teil einer umfassenderen Sachlage, die immer wieder übersehen wird: Unser

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