Wie frei wir sind, ist unsere Sache. Ulrich Pothast
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Ein Mann nimmt an einer öffentlichen Versammlung vieler Menschen teil. Er hört einen Redner etwas verkünden, das ihn empört, sein Gerechtigkeitsempfinden bitter verletzt und in ihm die Gewissheit erzeugt: Dagegen muss etwas gesagt werden. Plötzlich meldet sich unser Mann zum Wort oder erhebt plötzlich einfach seine Stimme, in diesem Augenblick nur im Ungefähren wissend, was er sagen soll. Er hat sich keinen Beitrag innerlich vorformuliert, »sieht« höchstens einige Sachpunkte »vor sich«, die er ansprechen muss. Doch ebenso unversehens und unvorbereitet, wie er das Wort ergriffen hat, spricht unser Mann seine Sätze und legt seinen Protest ein, bringt es sogar zu einer energischen, von seiner gerechten Empörung getragenen, kleinen Rede und greift damit erfolgreich in den Gang der Versammlung ein. Nichts dergleichen hat er im Voraus geplant oder vorbereitet, er ist im Nachhinein, zurückdenkend, von sich selbst überrascht. Ehe er sich’s versah, ist er im Modus eigener Aktivität aufgetreten und hat gehandelt – nicht konstruierte er seine Handlung vorausschauend wie ein Projektsteuerer in Kenntnis aller Elemente und Kräfte. Vielmehr trat die Handlung aus ihm hervor im Modus des Unversehens, als seine eigene aktive Tat und gleichwohl, was Zeitpunkt, Einzelheiten, ja auch den unmittelbar aufspringenden Entschluss zu sprechen angeht, mit einer für alles menschliche Wollen charakteristischen Unverfügbarkeit.
Auch, wo wir in einem längeren Prozess des Abwägens von Handlungsgründen zu einer Entscheidung gelangen, zum Beispiel nach einem normierten Verfahren der Entscheidungstheorie, bleibt die Unverfügbarkeit für direkten Zugriff bestehen. Denn erstens sind neben unseren eigenen Gründen in aller Regel auch andere Einflussgrößen beteiligt, die wir im fraglichen Augenblick nicht kennen, und die es möglich machen, dass unser faktisches Entscheiden auch von bestens abgewogenen Gründen abweicht. Und zweitens gehen in jeden Entscheidungsprozess übergeordnete Präferenzen ein, über die wir uns keine restlos begründende Rechenschaft mehr geben können, weil das Begründen sonst ins Unendliche gehen müsste. Vielmehr erleben wir unsere Präferenzen als uns eigen und als Ausgangspunkte unseres Begründens in ähnlicher (wenn auch nicht strukturell gleicher) Unverfügbarkeit für direkten Zugriff wie das schließliche Sich-Ereignen unseres Entscheidens und Wollens.
Unabtretbare Wahl bei eigenen Entscheidungen und Handlungen sowie Unverfügbarkeit des Ganzen einer Person im Augenblick ihres aktuellen Wollens stellen gleichermaßen Grundzüge der menschlichen Handlungsverfassung dar. Die unabtretbare Wahl bringt es mit sich, dass eine Person der Erwartung, sich mit ihrer ganzen Überlegungsfähigkeit und jeder möglichen Anstrengung für das ihr als das Rechte Erkennbare einzusetzen, nicht durch fatalistische Selbsttäuschung entziehen kann. Die antike Einstufung des fatalistischen Betrugs als »faule Vernunft« haben wir kennengelernt. Die Unverfügbarkeit bringt es mit sich, dass die Person, die sich als eine Gesamtheit kausal relevanter Kräfte und Umstände nie völlig kennen kann, im Prinzip auch darauf gefasst sein muss, dass sich temporäre Impulse gegen ihr langfristiges Selbstkonzept durchsetzen. Solche Impulse können im Augenblick sogar mit »guten« Gründen auftreten – Gründen, die die Person in langfristiger, situationsunabhängiger Betrachtung aber missbilligt. Das kann geschehen, obgleich sich die Person in ihrem Entscheiden und Wollen sehr wohl aktiv, aus eigenem Antrieb zur Tat schreitend erlebt. Wir sind Ganzheiten, die in der Erlebnisweise eigener, aktiver Entscheidung für bestimmte Handlungen optieren. Jedoch können wir das Tatsächliche, als das unser Wählen und Wollen im Augenblick seines Auftretens trotz Aktivitätsfärbung, Meinigkeit, Zentralität da ist, uns nicht noch einmal selbst aussuchen, wie wir uns auch als Person ursprünglich nicht selbst aussuchen konnten.
Auch die temporären Impulse, die uns – z. B. mit vorgeschobenen Gründen – manchmal anders handeln lassen, als wir es langfristig bevorzugen und billigen würden, gehören zu uns, machen uns als die Ganzheit des jeweiligen Augenblicks mit aus. Die von ihnen angeregten Taten sind demnach durchaus unsere eigenen. Dabei mag es sein, dass wir eben diese Handlungen aus situationsunabhängiger, beruhigter Perspektive im Rückblick als nicht zu uns passend und im personeigenen Sinn als unfrei ansehen. Personeigene Freiheit gegenüber unberechenbaren Impulsen und zu den Taten, die die Person situationsunabhängig, in langfristig orientierter Überlegung richtig findet, ist nie ein sicherer Besitz, sondern immer ein gefährdetes Gut.
Aber selbst wenn wir einen eigenen Entschluss im Nachhinein nicht billigen können: Im Moment seines Hervortretens aus der undurchschauten Gesamtheit zugrundeliegender Faktoren erleben wir ihn nur selten als fremd, als uns nicht zugehörig. Das Erscheinungsbild einer Person, die ihre eigenen Entscheidungen und Handlungen im gleichen Augenblick wie ein unbeteiligter Zuschauer erlebt und ihren Verlauf wie einen fremden Prozess verfolgt, tritt unter psychisch Gesunden nicht häufig auf. Auch dann zeigt es sich allenfalls kurzzeitig. Das permanente oder auch nur überwiegende Als-fremd-Erleben eigener Entscheidungen, Taten, ja des ganzen eigenen Körpers gehört in die Symptomatik der Depersonalisation. Es gehört damit in einen Bereich, den die »Normalen« als Zeichen einer »Krankheit« deuten und an die Medizin delegieren. Hingegen können wir »Normalen« es sehr wohl erleben, dass wir eine vergangene Entscheidung und die zugeordnete Tat im Nachhinein als uns fremd einschätzen und das Ganze als Versagen unserer personeigenen Freiheit beurteilen.
Am Wort »Depersonalisation« zeigt sich nebenbei etwas über unser eingebürgertes Personkonzept: Eine Person – nach gewohnter Auffassung und »normalem« Gebrauch des Begriffs – hat ein Bild von sich und ein Erleben ihrer selbst. Dazu gehört, dass sie eine ganze Reihe von Einstellungen, Akten, körperlichen wie seelischen Eigenschaften als ihr aufs Engste zugehörig erfährt. In vorderster Reihe dieser Gesamtmenge von Zugehörigem steht ihr eigener Körper, ihr eigenes Bewusstsein und – besonders intensiv als Eigenes in einer Art Kernbereich erlebt – ihr aktuelles Wollen. Der Gegensatz zwischen Meinigkeit, Aktivitätsfärbung, Zentralität des Wollens einerseits, Unverfügbarkeit eben dieses Wollens für direkten Zugriff andererseits, scheint ein Paradoxon zu sein. Das trägt immer wieder zu großer gedanklicher Spannung beim Deuten menschlicher Selbsterfahrung bei. Die scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen jenen gegenläufigen Eigenschaften erlebten Wollens hat schon früh zu philosophischer Auseinandersetzung herausgefordert. Sie dürfte auch ein Grund dafür sein, dass selbst in Alltagskontexten die Frage, wie wir uns als freie Menschenwesen zu verstehen haben, immer wieder zu einem Thema der Selbstdeutung reflektierter Personen wurde.
Personen können sich sehr wohl nach eigenem Entschluss in Richtung auf größere personeigene Freiheit auf den Weg machen und dorthin weiterentwickeln. Dies und die dazu nötigen Einzelhandlungen geschehen jedoch nicht als Ausmerzen der Unverfügbarkeit, die für direkten Zugriff auf eigenes Wollen bestehen bleibt. Vielmehr erweitern wir unsere menschlichen Möglichkeiten z. B. mit Hilfe eigenen Überlegens und eines Handelns, das ihm zu folgen sucht. In diesem Verständnis gibt es auch ein Sich-Entwerfen menschlicher Personen auf eine bestimmte Existenzweise hin. Da perfekte Gewissheit dabei fehlt und lineares, ununterbrochenes Aufsteigen dabei kaum vorkommt, ist es sinnvoll, sich für Erwerb, Erhaltung, Verteidigung jener Existenzweise auf wiederholte Anstrengungen einzustellen. In Kosmos der Lebewesen sind nur Personen – reflektierend auf sich selbst bezogene Wesen – imstande, diese Art von Anstrengung zu leisten. Nur Personen können eigene Handlungsneigungen ausdrücklich zum Thema machen und mit dem Ziel der Selbstveränderung indirekte Arbeit am eigenen Selbst erbringen – denkend wie handelnd.
3. Trotz Unverfügbarkeit der Willensbildung: Wir sind die Instanz, die unser Handeln wählt und ausführt
Wir