Wie frei wir sind, ist unsere Sache. Ulrich Pothast
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Diese populäre Theorie des Willens geht auf ein Motiv zurück, das man leicht nachvollziehen kann. Es wäre nämlich ganz unplausibel, zu sagen, dass der General Balaschow während seines Rittes zu Napoleons Feldlager und seines dann tagelangen Wartens unablässig ein Wollen erlebt hätte, das sich auf das Erfüllen seines Auftrags richtete. Angemessener ist es hier, davon zu sprechen, dass Balaschow während seiner Reise und der Wartezeit eine zielgerichtete Grundeinstellung hatte, die nicht pausenlos in seinem Bewusstsein präsent war. Wohl aber leitete diese Einstellung seine Reise, indem sie sich in seinem bewussten Erleben immer dann geltend machte, wenn es darauf ankam, z. B. wenn an einer Weggabelung zwischen dem Weg zu Napoleon und dem Weg zu einem anderen Ort zu wählen war. Wir können hier das schon gebrauchte Wort »Disposition« wieder verwenden, indem wir sagen: Die Disposition, Napoleon die befohlene Botschaft zu überbringen, gehörte während Balaschows Reise zu den wichtigsten handlungsleitenden Zügen seines seelisch-körperlichen Zustands. Die Gesamtheit handlungsgerichteter Dispositionen einer Person können wir als ihren »Willen« bezeichnen. Der so verstandene Wille macht sich nicht ständig im Erleben der Person bemerkbar – wie sich die Disposition des Fensterglases, unter Stoß zu zerbrechen, nicht unablässig an diesem Glas bemerkbar macht.
Der Wille äußert sich jedoch in erlebtem Wollen und Tun der Person, wenn sie in eine Lebenslage kommt, in der solches Tun gefordert ist. Tolstoi erzählt, dass Balaschow im französischen Lager auf den General Murat trifft, den Napoleon zum König von Neapel gemacht hatte. In der Unterredung mit diesem phantasievoll geschmückten Herrn betont Balaschow die friedlichen Absichten des Zaren und weist die französische Unterstellung, dieser habe den Krieg begonnen, zurück. Wir können annehmen, dass sich in diesen Aussagen Balaschows Wille zur Geltung brachte, den Franzosen auftragsgemäß die friedliche Gesinnung seines Zaren zu verdeutlichen.
Das Wort »Wille« möge in unseren Überlegungen künftig als handlungsgerichtete, personeigene Disposition oder als die Gesamtheit solcher Dispositionen einer Person verstanden werden. Das Wort »Wollen« hingegen möge für einen konkreten Zustand des Erlebens stehen, in welchem eine Person sich strebend, begehrend oder ähnlich auf das Ausführen einer Handlung richtet. Durch das Erlebnis des Wollens manifestiert sich der als Disposition vorhandene Wille eines Menschen zeitweilig im Feld seines Bewusstseins.
Interessant mag sein, dass das Wort »Wollen« als Ausdruck für ein reales Erleben kaum zu einer hoch problematischen Operation verführt, die mit dem Wort »Wille« oft vorgenommen worden ist und große Probleme erzeugt hat. Diese Operation ist die Zuordnung des Adjektivs »frei«. Ich kann mich nicht erinnern, irgendwo von einem »freien Wollen« gelesen zu haben. Beim Begriff »Wille« hingegen, der sich nicht auf etwas konkret Erlebtes bezieht, sondern nur auf etwas, das für Zwecke der (Alltags-)Theorie als existent angenommen wird, stößt man auf geringere Widerstände, wenn man das Adjektiv »frei« hinzufügt. Im Reich theoretischer Ausdrücke kann man viele sprachliche Manöver vornehmen, ohne dass sogleich die Einlösung in der Münze bewusster Zustände gefordert würde. So kann man auch das Adjektiv »frei« dem Substantiv »Wille« zuordnen und versucht sein, diese Operation unproblematisch zu finden. Es wird ja in diesem Reich nicht sofort gefragt, wie wir den Gegenstand des Substantivs »Wille« mit der Eigenschaft »frei« tatsächlich erleben können. Denn es ist ein Reich der Denkprodukte.
3. Wir erleben unser Wollen als uns eigen, aber wir erleben es nicht als willentlich lenkbar
Wenn es um das mögliche Einwirken einer Person auf ihr eigenes Wollen geht, ist mit Nachdruck ein Sachverhalt zu erwähnen, der in Fragen der personeigenen Freiheit von entscheidender Bedeutung ist: Wir können unser Wollen nicht in der gleichen Weise wählen, wie wir unsere Handlungen wählen. Vielmehr kommen wir zu unserem Wollen, wenn überhaupt durch eigenen Einfluss, auf ganz andere Weise als zu unseren Handlungen. Und es ist ja vor allem unser eigenes Wollen in kritischen Situationen, von dem wir möchten, dass es mit unserem langfristigen Für-richtig-Halten übereinstimmt, nicht aber unter dem Druck temporärer Impulse davon abweicht. Ähnlich mit unserem dispositionalen Willen: Wir wählen uns nicht einen Willen, wie wir eine Handlung wählen können. Wir wählen unseren Willen gar nicht in dem üblichen Sinn von »wählen«. Möchten wir hier einen Einfluss haben, müssen wir zu indirekten Mitteln greifen.
Ähnliches gilt für unser aktuelles Wollen. Im Gegensatz zu Handlungen, die wir durch direktes Auslösen von Körperbewegungen ohne Umweg in Gang setzen, aber auch unterlassen können, zeigt unser Wollen oft etwas eigentümlich Faktisches und Widerständiges – sogar für die Person selbst. Es zeigt die typische Widerständigkeit einer Tatsache, die schlicht besteht – zumindest bis auf Weiteres. Das kann man sich gut an Fällen verdeutlichen, in denen eine Person stark und dauerhaft etwas will, zum Beispiel etwas, wovon ihre ganze Umgebung ihr abrät. Nehmen wir eine junge Frau, die Tänzerin werden will, aber nach dem Urteil sachkundiger Begutachter, etwa in der Vorklasse eines Studiengangs, dafür nicht sehr geeignet ist. Ihre Eltern mögen ihr sagen, es sei viel sinnvoller, einen Beruf zu wählen, der Aussicht auf ein stabiles Einkommen, relativen Schutz vor Arbeitslosigkeit und eine gute Altersversorgung bietet, sagen wir den Beruf der Lehrerin. Unsre junge Frau mit dem starken Interesse am Tanz wird es wahrscheinlich schwer finden, sich gemäß elterlichem Rat zügig auf ein Schulfach umzustellen. »Ich will einfach nichts anderes studieren«, könnte diese Frau sagen und damit bezeugen, dass sie ihr auf den Tanz gerichtetes Wollen wie ein inneres Faktum erlebt, das sich nicht nach Belieben wegschaffen lässt. Auch wenn die junge Frau nicht unablässig an den Tanz denkt, manifestiert sich doch ihr darauf gerichteter Wille in ihrem aktuell gegenwärtigen Bewusstseinsleben als konkretes Wollen, sobald die Eltern wieder einmal auf sie einreden. Ihre Ablehnung anderer Studienvorschläge könnte die Frau auch so ausdrücken, dass sie sagt: »Ich kann nicht. Ich kann mich einfach nicht auf etwas ganz anderes umstellen als auf das, was ich klar als mein Wollen erkenne. Und mein Wollen richtet sich auf eine Tanzausbildung, nichts sonst.« Dass ein klar sich geltend machendes eigenes Wollen im inneren Raum der Person wie etwas Faktisches erlebt wird, über das diese Person nicht einfach verfügen kann, ist für solches Wollen nicht ungewöhnlich, sondern typisch. Als klassisches Beispiel für ein Wollen, das als inneres Faktum erfahren wird, über welches die Person keine unmittelbare Verfügung hat, darf die Äußerung gelten, die Luther auf dem Reichstag zu Worms getan haben soll. Seine Worte sind offenbar nicht nur als Ausdruck einer stark ausgebildeten Überzeugung zu nehmen, sondern auch als Ausdruck des stark ausgebildeten Wollens, nach dieser Überzeugung zu sprechen und zu handeln: »Hier steh’ ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir.«
Unser Wollen als Phänomen des inneren Lebens hat mehrere Eigenschaften, die zu dieser jetzigen Beschreibung teils passen, teils ihr zu widersprechen scheinen. Zwei dieser Eigenschaften können angesprochen werden als Meinigkeit und Aktivitätsfärbung. Wir erleben unser Wollen als uns auf sehr enge Weise zugehörig. Wenn wir stark und deutlich etwas wollen, können wir uns selbst in dem betreffenden Zeitfenster nur schwer vorstellen ohne dieses Wollen. Es ist jetzt und hier eine unleugbare Eigenschaft der eigenen Person. Die Erwartung, wir mögen von einem Augenblick auf den nächsten stattdessen etwas ganz anderes wollen, erscheint wie die Zumutung, wir sollten jetzt und hier ein anderer Mensch werden. Diese Weise, in der eigenes Wollen auftritt, ist in der philosophischen Literatur wohl zu Recht mit dem Terminus »Meinigkeit« beschrieben worden.1 Es ist nicht nur Meinigkeit im Sinn des zufälligen Zugehörens zu mir wie die Augenfarbe oder die Form der Fingernägel, sondern viel stärker: Es ist Meinigkeit in dem Sinn, dass dieses Wollen im fraglichen Zeitfenster uns selbst, wie wir uns jetzt und hier erleben, auf