Tatort Heuriger. Sabina Naber

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Tatort Heuriger - Sabina  Naber

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müssen, die kommenden Allerheiligen hier in Gesellschaft seiner verstorbenen Verwandten zu verbringen. Er wandte sich schaudernd ab. Seine Frau verschränkte die Finger ineinander und hielt den Kopf gesenkt. Betete sie?

      Er ging die paar Schritte zum Hauptweg zurück, ließ, um auf andere Gedanken zu kommen, den fantastischen Ausblick auf sich wirken. Wie eine Kuppel wölbte sich das klare Herbstlicht über der Stadt. Im Vordergrund das zarte Gelb des Kirchturms und die hellroten Ziegeldächer der umliegenden Häuser, weiter hinten am Horizont schlängelte sich der Marchfeldkanal durch enges Grün. Neben der UNO-City stach der Donauturm in den Himmel, die Hochhäuser auf der Platte im Süden wirkten in der Weite des Beckens verloren. Schade, dass er den Fotoapparat zu Hause gelassen hatte.

      Der Wind wehte Musikfetzen von der Kellergasse herüber. Er sehnte sich nach dem Trubel, der dort stattfand. Er hätte gern laut hinausgeschrien, dass er wieder da war, endlich wieder dazugehörte.

      »Komm jetzt!«, sagte er und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Seine Frau nickte, bückte sich und zupfte an einem Grashalm, der neben der Steinschale mit den Stiefmütterchen aus dem weißen Kies ragte.

      Er deutete auf die Reklametafel, die die Stammersdorfer Kellergasse als schönste von Wien pries. »Grinzing hat auch seinen Reiz«, widersprach sie – mehr aus Prinzip, denn im Grunde war sie lieber hier.

      Bevor er krank geworden war, hatte sie viele Nachmittage in den nördlichen Randbezirken Wiens verbracht. Sie war oft von Strebersdorf aus in den Hohlwegen, die die Lösshügel durchschnitten, unterwegs gewesen. Begleitet von quälenden Gedanken, hatten sie ausgedehnte Spaziergänge über Feldwege und Wiesen, manchmal bis hinauf zum Sender am Bisamberg geführt.

      Es war ein Freitag gewesen, als sie bei einem Kaffee im Magdalenenhof beschlossen hatte, sich scheiden zu lassen. Sie hatte lange genug zugeschaut. Irgendwann musste einfach Schluss sein. Auch ihre Geduld hatte Grenzen.

      Befreit, als ob ihr eine schwere Last von der Seele genommen worden wäre, war sie danach die Senderstraße hinunter zum Steinernen Kreuz gegangen. Dass das bunte Laub der Weinstöcke mit der Sonne um die Wette leuchtete, hatte sie für ein gutes Omen gehalten.

      Die Atmosphäre des Weinfests in der Stammersdorfer Kellergasse, das über die Bezirksgrenzen hinaus als »Stürmische Tage« bekannt war, erinnerte ihn an die Kirtage seiner Kindheit. Der milde Herbsttag hatte viele an den Stadtrand gelockt. Er griff nach der Hand seiner Frau, um sie nicht in der Menge zu verlieren, und ließ sich mit ihr vom Besucherstrom treiben. Paare und Familien flanierten mit Kinderwagen und Hunden durch die Gasse. Er lächelte einem kleinen Mädchen zu, das die Schnur seines Hello-Kitty-Folienballons umklammerte. Vor einem abgewitterten Kellertor wurden Maroni und Kartoffelscheiben gebraten. Ein paar Meter weiter stand eine Vitrine mit Aufstrichbroten auf Papptellern. Appetitlich angerichteter Liptauer, Eiersalat und Grammelschmalz ließen ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Am liebsten hätte er die Finger der Reihe nach in die vollen Schüsseln gesteckt und abgeschleckt, so wie er es früher als Kind gern getan hatte, wenn die Mutter gerade nicht aufpasste. »Hast du Hunger?« Seine Frau verneinte. Sie hatte seine Hand losgelassen und kontrollierte das Display ihres Handys.

      »Hat jemand angerufen?« Seine Frau schüttelte den Kopf. Sie schien ihm bedrückt. Womöglich lag es an den vielen Menschen? Er wusste, dass sie sich im Gedränge unwohl fühlte. Gern hätte er sie mit seinem Elan und seiner unbändigen Lebenslust angesteckt.

      Sie hätte daheim bleiben sollen. Diese Horde Vergnügungssüchtiger, die sich durch die Kellergasse schob, war ihr zuwider. Sie verdarb den Zauber, den die alten Weinkeller, eingerahmt von Liguster, Holunder oder Heckenrosen, an ruhigen Tagen auf sie ausübten. Selbst die bunten Kellerstöckel, die sich rechts und links der Gasse an die Hänge drängten, erschienen ihr heute kitschig. Kein Vergleich zur Atmosphäre im Spätherbst, wenn sich skelettierte Rebstöcke in feuchtkalte Nebelschleier hüllten. Als wären sie zum Luftschnappen aus verfallenen Kellern gekrochen – so war es ihr manchmal vorgekommen.

      Verfallen hatte auch er gewirkt, damals, als er ihr den Befund hinhielt. Sie war fest entschlossen gewesen, ihn an diesem Abend mit ihren Scheidungsabsichten zu konfrontieren. Während er verzweifelt mit seinem Schicksal haderte, hatte sie ihr Vorhaben verschoben. Er hatte ihr leid getan, als er ohne Panzer mit einem Mal schutzlos vor ihr stand.

      Er deutete zu einem Weinfass, das zum Stehtisch umfunktioniert worden war. Gerade waren zwei Plätze frei geworden. Letztes Jahr hatte er die »Stürmischen Tage« ausfallen lassen müssen. Geschwächt von der Chemotherapie war er froh gewesen, wenigstens die Hühnersuppe bei sich zu behalten. Nach süßem, prickelndem Sturm, der so herrlich beschwingt macht, war ihm damals nicht gewesen. Nun freute er sich auf das erste Glas. »Mahlzeit«, prostete er ihr zu. Sie hatte sich einen Riesling bestellt.

      Es hatte lange gedauert, bis sie eingesehen hatte, dass einer wie er sich nicht ändern würde. Sie hatte alles versucht – ihm Vorhaltungen gemacht, getobt, still gelitten, sogar probiert, seine Weibergeschichten zu ignorieren. Aber es hatte jedes Mal wehgetan, sogar noch nach mehr als zwanzig Ehejahren. Ihr Blick fiel auf das vergitterte Fenster des Weinkellers, das eine schmiedeeiserne Rebe zierte.

      Sie musterte ihn von der Seite. Für einen, der sein Ablaufdatum überschritten hatte, sah er reichlich fidel aus. Auf die Ärzte im richtigen Leben war kein Verlass. Deshalb hatte sie gegoogelt und sich beim Netdoktor schlau gemacht. Als geheilt galt man erst nach fünf Jahren. Wollte sie so lange warten? Natürlich wäre sie als Witwe besser dran als nach einer Scheidung. Aber was, wenn er gesund blieb, noch ein langes Leben vor sich hatte? Er tätschelte ihren Arm. Sie bestellte sich noch einen Riesling.

      Er hatte gebrannte Mandeln gekauft und steckte sich eine davon in den Mund. Es knackte, als er hineinbiss. Sie dachte an Schwarze Witwen und an Blausäure. Man könnte ihn mit kleinen Dosen Arsen vergiften. Damit waren einige vor ihr schon erfolgreich gewesen. Als er ihr das Stanitzel mit den Mandeln anbot, griff sie zu. Die mit karamellisiertem Zucker überzogenen Kerne waren noch warm.

      Eine vollbusige Blondine im Dirndl drängte sich an ihm vorbei. Karola hatte ihm eine SMS geschickt. Bis jetzt hatte er noch nicht darauf geantwortet. Vielleicht würde er ihr später schreiben. Verdient hatte sie es nicht. Er verübelte ihr, dass sie so einfach den Kontakt abgebrochen hatte, nur weil sie mit seiner Diagnose nicht zurechtgekommen war. Schließlich war es sein Krebs gewesen … wenn er aber an ihren süßen Arsch dachte, den aufreizenden Schmollmund … Er rief sich zur Ordnung. Hatte er nicht seiner Frau versprochen, dass in Zukunft alles anders werden sollte? Er ein besserer Ehemann sein würde? Sie griff erneut in das Stanitzel mit den Mandeln. Er nahm es als Zeichen, dass sie langsam Gefallen an dem Ausflug fand.

      Sein Blick in das Dekolleté der Blondine war ihr nicht entgangen. Das Mädel hat eine entfernte Ähnlichkeit mit Karola, dachte sie. Am liebsten hätte sie ihm die süße Mandel in ihrem Mund ins Gesicht gespuckt. Oder ihm den Rest ihres Rieslings über den Kopf gekippt, damit das aufreizende Grinsen um seine Mundwinkel endlich verschwand. Glaubte er wirklich, dass sie nichts von der SMS wusste, die ihm Karola, dieses Flittchen, geschickt hatte? Sie kontrollierte sein Handy regelmäßig, sah auch in seinen E-Mails nach. Mit seinen Treuegelübden war es nicht weit her. Sie hatte es von vornherein geahnt. Trotzdem war sie dumm genug gewesen, ihm zu glauben, als er, den Infusionsbeuteln der Chemotherapie ausgeliefert, hilflos vor ihr lag. Hatte man nicht oft genug von Fällen gehört, in denen ein naher Tod vieles änderte? Außerdem schlief er wieder regelmäßig mit ihr – auch wenn sie nicht alle seiner bevorzugten Praktiken mochte. Die Hoffnung starb immer zuletzt.

      Ihre Enttäuschung schlug in flammenden Ärger um. Wozu hatte sie sich solche Mühe gegeben, hingebungsvoll die treusorgende Ehefrau gespielt? Wahrscheinlich hatte sie ihn irgendwie immer noch geliebt. Seine hilflose Anhänglichkeit hatte sie gerührt. Jetzt, im Nachhinein, hasste sie sich für ihre Schwäche.

      Als

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