Der Schattendoktor. Adrian Plass

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Der Schattendoktor - Adrian Plass

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Mitte dieser kleinen freien Fläche, schlang die Arme um seinen Oberkörper und hob seinen Blick hinauf zu dem natürlichen Planetarium über seinem Kopf.

      Eine Minute verstrich. In ihm rührte sich etwas und baute sich auf. Er begann am ganzen Leib zu zittern. Als der qualvolle Schrei endlich aus ihm herausbrach, prallte er gegen die seelenlos unerbittlichen Stämme der Bäume ringsum und zurück zu der einsamen Gestalt.

      »Ich habe Angst! Es ist zu viel – ich schaffe das einfach nicht mehr!«

      Es gab keine Antwort auf seinen verzweifelten Schrei. Geräusche gab es genug, aber keine, die an ihn gerichtet waren. Der Mann kannte die Stimmen des Waldes gut. Die flüsternde, ächzende Sprache der Bäume. Kleine Kreaturen, die in ihren eigenen kleinen Welten ihre Qual oder ihre Verzückung hinausschrien. Er bemerkte den gedämpften Flügelschlag einer Eule, die mit ihren gezackten Flügelkanten beinahe lautlos dahinglitt auf ihrer Jagd nach Kleintieren und Vögeln auf dem Waldboden. Er erkannte das laute, bauchrednerhafte Tschilpen des Ziegenmelkers, für ihn der mysteriöseste und faszinierendste Bewohner dieser Welt im Zwielicht. All diese Stimmen waren ihm vertraut. Er hatte keine Furcht vor ihnen, ebenso wenig wie vor der Dunkelheit.

      Das war es nicht, wovor er sich fürchtete.

      Sein Gespür für die gewöhnlichen Geräusche der Nacht war so fein, dass das Knacken eines Zweiges am Rand der Lichtung ihn überrascht herumfahren ließ. Kein Rätselraten. Er brauchte nicht zu überlegen, was für ein Gewicht nötig war, um genau so ein Geräusch hervorzubringen. Aber es war eine Störung. Es war ein Schock.

      Es gab nur eine Person, die ihm in den Wald gefolgt sein konnte.

      Nach einer langen Fahrt aus dem Süden und einem geplatzten Termin war Jack Merton eines regnerischen Morgens in Ripon gestrandet, einem Taschenformatstädtchen in Yorkshire. Am Ende einer uneben gepflasterten Gasse, die sich von dem winzigen Stadtzentrum wegschlängelte, ragte plötzlich die Kathedrale St. Peter vor ihm auf. Er überquerte die Minster Road und drückte sich durch den Westeingang, um dem lästigen Dauernieselregen zu entrinnen. Friede legte sich auf ihn, als er das Kirchenschiff betrat. Es war eine Art heilsamer Schock. Viel mehr als nur der Unterschied, ob man im Regen oder im Trockenen war. Die Naht zwischen dem einen und dem anderen Zustand war unmöglich auszumachen. Es hatte etwas Magisches.

      »Zauberhaft«, flüsterte er genießerisch vor sich hin.

      Die Liebe zu englischen Kathedralen hatte Jack schon als kleiner Junge von seinem Vater beigebracht bekommen. Sie offenbarten Unzulänglichkeit durch Übermaß, hatte dieser immer gesagt. In dieser hier kam er sich vor, als stünde er im Innern einer riesigen Glocke, erfüllt von einem sanften, freundlichen Licht und einer Heerschar von Schatten in allen Grautönen, mühelos gemischt von hauchzart bis tiefdunkel. Nun nicht mehr gestrandet, sondern einfach anwesend, ließ sich Jack wie in einem Traum durch das Gebäude treiben, bis er auf ein kleines Alpenmassiv aus gusseisernen Kerzengestellen am Fuß einer Säule gegenüber der Südwand stieß.

      Der bloße Anblick der Kerzen beunruhigte ihn ein wenig. Seit er mit sechzehn Jahren gläubig geworden war, hatte Jack sich bemüht, seinen Gebeten nicht durch derlei grobstoffliche Symbole eine greifbare Dimension zu geben, so verführerisch hypnotisch der Anblick und der Gedanke einer schmelzenden Flamme auch erscheinen mochten. In seinen Kreisen herrschte allgemeine Übereinstimmung, dass Spiritualität nur dann wirklich echt sein konnte, wenn sie sich abseits der Welt der »Dinge« abspielte. In letzter Zeit freilich war ihm die Widersprüchlichkeit dieses Denkens undeutlich bewusst geworden. In der Gemeinde, die er seit einigen Jahren besuchte, war zum Beispiel der Wein bei der Kommunion durch Kirschsaft ersetzt worden, aber soweit Jack sehen konnte, haftete den geweihten Elementen nach wie vor eine gesunde Gegenständlichkeit und Sichtbarkeit an.

      In einem Anfall von Unabhängigkeit warf er nun eine Pfundmünze in den Schlitz unter den Gestellen, entnahm eines der ungebrauchten Teelichter aus einem danebenstehenden Karton und entzündete es vorsichtig an einer brennenden Kerze. Als der Docht aufflammte, entfuhr ihm ein jammervolles Schluchzen, das er sogleich als kleinen Hustenanfall tarnte.

      Auf unerklärliche Weise fühlte sich das Schluchzen wie ein Gebet an. Unverschämterweise galt es ihm selbst. So bruchstückhaft und dennoch so aus tiefstem Herzen hatte er Gott noch nie angefleht. Einige Sekunden lang beobachtete er die brennende Kerze und genoss sie wie einen persönlichen Erfolg. Vielleicht würde sich ja, überlegte er, die kaum merkliche, aber unbestreitbar zufällige Bewegung der winzigen Flamme als Symbol der Befreiung erweisen – als Chance auf etwas Neues, wenn er nur den Mut hatte, danach zu greifen. Aber was konnte das bedeuten? Er hatte, jetzt und hier, nicht die leiseste Ahnung.

      Vierzehn Tage später würde er den Brief seiner Großmutter öffnen und lesen. Er sollte sein Leben verändern.

      Jacks Großmutter war drei Monate zuvor gestorben, wenige Tage vor ihrem neunzigsten Geburtstag. Die Pflegerin von Golden Hands, Barbara, die Alice werktags jeden Morgen beim Aufstehen half, hatte die alte Dame gefunden, das Gesicht auf den Händen ruhend, die Wangen so rosig und die Miene so friedlich wie eh und je. Barbara hatte ein paar Tränen vergossen. Die witzige, schlagfertige Alice war ihr sehr ans Herz gewachsen. Schwer zu akzeptieren, dass sie in dieser Welt nie wieder erwachen würde.

      Jack hatte seine Oma immer geliebt und geschätzt. Sie vergötterte ihn und erzählte mit Vorliebe herum, ihr Enkel sei ein gutaussehender junger Mann mit einem Schuljungenschädel und bezaubernden Lächeln, den man ohne Weiteres mit dem Schauspieler Matt Damon verwechseln könnte. Sie war ein helles, nie verlöschendes Licht in den dunkleren Korridoren in Jacks Leben, besonders seit er nach dem Tod seines Vaters allein auf der Welt zurückgeblieben war. Wann immer sie ihn sah, war sie außer sich vor Freude, immer war sie freundlich, immer großzügig. Gut unterhalten konnte man sich mit ihr auch. Eigentlich mehr als gut. Der Witz und der Scharfsinn, die Alice Merton im Gespräch an den Tag legte, machten ihrem innerlich unsicheren Enkel Mut, sich behutsam mit der einen oder anderen Wahrheit über sich selbst auseinanderzusetzen, die keinesfalls für die Öffentlichkeit bestimmt war.

      An seinen Großvater William erinnerte Jack sich kaum. Auf dem Sekretär im Wohnzimmer der Parterrewohnung, in die Oma gezogen war, als sie die Treppen nicht mehr bewältigen konnte, standen Fotos von ihm. Sie zeigten einen großen, rustikalen, hellwachen Mann mit zerzausten Haaren, einem zuversichtlichen Lächeln, der auf fast jedem der Bilder seinen Arm schützend um die Schultern seiner Frau legte. Jack war immer amüsiert darüber gewesen, dass Omas weitgeöffnete Augen und das Strahlen auf dem ovalen Porträt ihres Gesichts atemlos zu schwärmen schienen: »Ich kann mein Glück kaum fassen!« Eines Tages hatte er ihr bei Tee und selbstgebackenem Battenbergkuchen, der seltsamerweise mit einem alarmierenden Schuss Rum getränkt war, von seinem Eindruck erzählt.

      Tränen schimmerten in den Augen der alten Dame. Sie beugte sich hinüber, um nach einer der in Silber gerahmten Fotografien zu greifen, und betrachtete sie ein paar Momente lang mit schiefgelegtem Kopf. Dann legte sie sie mit der Vorderseite nach unten auf ihren Schoß und tupfte sich mit einem Taschentuch, das sie aus ihrem Ärmel zupfte, die Tränen ab.

      »Tut mir leid, Oma«, sagte Jack mit leicht stockender Stimme. »Ich wollte dich nicht traurig machen.«

      »Ach du liebe Zeit, nein, du hast mich nicht traurig gemacht, Schätzchen«, erwiderte sie und beugte sich vor, um ihrem Enkel sanft das Knie zu tätscheln. »Daran ist er schuld, der liebe alte Egoist. Einfach so zu sterben und sich aus dem Staub zu machen.«

      »Vermisst du ihn denn noch?«

      Alice nippte an ihrem Tee. Ein Funkeln machte sich in ihren Augen bemerkbar.

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