Der Schattendoktor. Adrian Plass
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Vorne auf dem Umschlag standen in Alices säuberlicher Handschrift die Worte: »Für meinen lieben Jack«. Er öffnete ihn mit einem leise gehauchten Seufzen, zog die gefalteten Blätter heraus, strich sie auf dem Tisch vor sich glatt und begann zu lesen.
Irgendwo draußen in der Dunkelheit, hinter dem Krocketplatz und der Straße, die daran vorbeiführte, und der unteren Hauptstraße und der Promenade und dem Kiesstrand, wogte unbeirrt die See.
3. Der Brief
Mein lieber Jack,
ich grüße Dich, mein wunderbarer Enkel. Falls Du es wissen willst – ich beginne diesen Brief auf dem Klappsekretär vor meinem herrlichen großen Fenster zum Meer. Die Sonne scheint (diese Stadt soll ja angeblich so ziemlich der sonnigste Ort in Großbritannien sein, weißt Du!), der Himmel ist blauer als ein Heckenbraunellenei, und die See liegt einfach da und dümpelt vor sich hin in selbstgefälliger Schönheit, geschmückt mit ihren schönsten Edelsteinen.
Ich erinnere mich gerade daran, wie Du hier mit mir meinen sechsundachtzigsten Geburtstag gefeiert hast. Das war eine unserer schönsten Zeiten, nicht wahr? Am Morgen ließ ich mich großzügigerweise von Dir die ganze Promenade bis nach Holywell schieben, und wir fanden wieder einmal heraus, dass das immer weiter weg ist, als wir denken. Dort haben wir einen anständigen Kaffee getrunken und uns über die Trägheit in der Politik unterhalten, und viel wichtiger, über die seltsame Wirkung, die die Laute der Möwen auf die Seele haben. Weißt Du noch? Dann, nachdem ich am Nachmittag zu Hause ein Nickerchen gehalten hatte, hast Du mich zu einem frühen Abendessen in mein Lieblings-Thai-Restaurant am neuen Jachthafen ausgeführt. Ich weiß nicht mehr genau, was wir bestellt haben, nur noch, dass ich auf jeden Fall diese köstlichen Schmetterlings-Garnelen hatte, die dort immer so lecker sind. Mir läuft schon beim Schreiben das Wasser im Mund zusammen.
Was haben wir außer essen in dem Restaurant gemacht? Ach ja. Wir sind einem unserer Lieblingshobbys nachgegangen. Wir haben versucht, die Serienmörder unter den anderen Gästen zu erkennen, stimmt’s? Es gab da einen oder zwei vielversprechende Kandidaten, meine ich mich zu erinnern, besonders diesen Mann, der ganz allein am übernächsten Tisch saß. Er hockte zusammengesunken auf seinem Stuhl, den Unterkiefer nach vorn geschoben, und schwenkte mit finsterer, räuberischer Miene seinen großen Kopf hin und her wie eine Rübe auf einem Stecken. Er kundschaftete wohl potenzielle Opfer aus, vermuteten wir. Doch dann kamen seine hübsche Frau und seine beiden fröhlichen Kinder herein und verdarben uns alles, indem sie ihn wie durch Zauberei in einen sympathischen, heiteren, freundlichen Menschen verwandelten, der schlechte Witze erzählte und offensichtlich von seiner Familie sehr geliebt wurde. Was für eine Enttäuschung! Dass die uns auch so den Spaß verderben mussten. Manche Leute nehmen einfach keine Rücksicht auf andere, nicht wahr? Wenn man schon wie ein Serienmörder aussieht, dann sollte man gefälligst auch einer sein. Oder aber sich mehr Mühe geben, eine positive Ausstrahlung zu haben. Das ist meine Meinung.
Wir hatten einen herrlichen Abend, Jack. Du wolltest unbedingt die Rechnung übernehmen, und ich bin natürlich eine sehr angenehme Gesellschaft. So waren wir beide zufrieden.
Es gab nur einen Moment, der ein bisschen querlief. Weißt Du noch, wie wir mit thailändischem Bier auf Deine Mutter und Deinen Vater angestoßen haben? Das war kein Problem, aber dann sagte ich etwas Unbedachtes:
»Hoffen wir, dass sie glücklich sind, wo immer sie jetzt sein mögen.«
Oder so etwas Ähnliches. Darauf trat ein klammes, furchtbares Schweigen ein, und es wurde sehr unbehaglich. Natürlich wusste ich, warum. Weder Du noch ich werden wohl je diesen abgrundtief scheußlichen Moment vergessen, als Du mich fragtest, warum ich mich offenbar nie sonderlich für das interessiere, woran Du glaubst – für Deine Hingabe ans Christentum.
Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass mir an jenem Tag der Mut fehlte, Jack. Meine Antwort auf Deine Frage war jämmerlich und nur zur Hälfte wahr. Ich glaube, ich sagte etwas in dem Sinn, ich fände keine Substanz in dem, was Du darüber sagtest oder wie Du darüber redetest, oder so etwas Ähnliches. Seither haben wir, wie Du weißt, den Kopf eingezogen, wann immer das Gespräch auch nur annähernd auf dieses Thema kam. Vielleicht war es nur ein ganz kleiner Elefant, aber er versteckte sich immer irgendwo im Zimmer. Und wahrscheinlich hast Du auch gemerkt, dass solche Viecher paradoxerweise immer größer werden, je weniger man sie füttert. Ich glaube, in dem Thai-Restaurant damals haben wir beide das Stampfen schwerer Füße gehört. Mich hat das sehr traurig gemacht.
Ich fürchte, das hier wird ein ziemlich langer Brief, aber ich muss ihn Dir aus zwei Gründen schreiben. Erstens will ich versuchen, es wiedergutzumachen, dass ich so wenig hilfreich und so feige war. Ich will Dir endlich erklären, was ich mit meiner völlig unzulänglichen Antwort damals gemeint habe. Und den zweiten Grund wirst Du vielleicht sehr seltsam und verschroben finden. Er hat mit etwas zu tun, was mir passiert ist, mit einem Erlebnis, das ich nie erwartet hätte. Ich kann mit Etiketten nicht viel anfangen und finde wirklich keine Worte, um zu erklären, wovon ich gerade spreche, also lasse ich es lieber. Sagen wir einfach, es hatte mit der Geburt (ein besseres Wort fällt mir nicht ein) von etwas Neuem zu tun. Vielleicht würdest Du es Glauben nennen. Nahegebracht hat es mir der Mann, von dem ich Dir in diesem Brief erzählen will. Im Zusammenhang mit ihm möchte ich Dir etwas vorschlagen, was Du vielleicht tun solltest.
Also, zuerst: Was habe ich Dir über die Art und Weise, wie Du zu mir von Deinem Glauben gesprochen hast, sagen wollen? Ach je, das ist nicht einfach. Ich muss es wohl einfach denken, fühlen und dann zu Papier bringen. Geh nicht weg.
Okay, ich bin wieder da. Ich habe nachgedacht und nachgefühlt, und jetzt bleibt nur noch eins zu tun. Also los. Ich hatte, wenn Du in meine Richtung über den Glauben gesprochen hast, immer das deutliche Gefühl, dass ich an dem Gespräch eigentlich gar nicht beteiligt war. Mir kam es so vor, als ob Du nur mit Dir selbst redetest statt mit mir. Mich wolltest Du nur an Bord haben, damit ich Dir irgendwie bei der Hauptaufgabe helfe, nämlich Dich selbst davon zu überzeugen, dass Du an das glaubst, was Du da sagst. Das hat mich nicht nur verwirrt. Es hat mich auch traurig gemacht. Wie warst Du nur in diese enge Gefängniszelle aus Furcht und Verwirrung geraten, in der Du immerzu hin und her tigern und laut von der tollen Freiheit erzählen musstest, die Du gefunden hattest und die alle anderen auch brauchten? Das ergab alles keinen Sinn, aber mit angstgetriebener Leidenschaft lässt sich nicht streiten. Also kniff ich. Ich hätte mich ja auch dahinterklemmen und richtig darüber nachdenken und es versuchen können. Aber das habe ich nicht, und das tut mir leid. Ich wollte es einfach nicht aufs Spiel setzen, das mit uns. Ich wollte, dass wir beide so weitermachen wie immer. Ich hoffe, lieber Jack, Du hast wie ich das Gefühl, dass uns das im Großen und Ganzen gelungen ist. Aber ich weiß natürlich genau, dass der Schatten immer da war. Bis jetzt, hoffe ich. Es tut mir wirklich leid, Jack. Bitte vergib mir.
Und mit dem Stichwort Schatten komme ich zu dem zweiten Grund, warum ich diesen Brief schreibe. Ich möchte Dir von etwas erzählen, was mir letztes Jahr passiert ist. Ein paar Dinge in dieser Geschichte sind merkwürdig und für mich einigermaßen peinlich. Du bist erst der zweite Mensch, der von meinem schrecklichen Geheimnis erfährt. Ich fürchte, Du wirst auch ein bisschen bestürzt darüber sein. Oh ja. Ich glaube, ich höre jetzt lieber auf und setze mich morgen früh wieder dran.
Da bin ich wieder. Das Frühstück ist abgeräumt, die Sonne strahlt immer noch, und ich habe keine Ausrede, es vor