Der Schattendoktor. Adrian Plass
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Читать онлайн книгу Der Schattendoktor - Adrian Plass страница 6
Am anderen Ende der Bank saß ein Mann.
Menschen sind schon komische Geschöpfe, nicht wahr, Jack? Ich jedenfalls. Der Gedanke, aufs Meer hinausgetrieben oder von einem Bus überfahren zu werden oder mich mit Tabletten vollzustopfen, bis Bewusstlosigkeit und Tod mich überkommen – das alles schienen mir akzeptable Mittel zu sein, um den Schmerzschalter auf »Aus« zu stellen. Aber mich hier plötzlich allein einem fremden Mann gegenüberzusehen, an einem Ort, wo nicht damit zu rechnen war, dass irgendein anderer Mensch auftauchte, das ließ mir die Angst in alle Glieder fahren. Wenn schon, dann wollte ich meinem Leben selbst ein Ende machen, meine Güte. Von jemand anderem gemeuchelt zu werden, davon war bei der Brainstorming-Sitzung nie die Rede gewesen, nicht einmal als winzige Fußnote ganz unten in der Ecke der Flipchart.
Mein erster Gedanke war, mich schleunigst aus dem Staub zu machen. Das tat ich aber nicht, und zwar aus drei Gründen. Erstens konnte ich das gar nicht. Ich bin schon seit Jahren nicht mehr in der Lage, mich schleunigst irgendwohin zu bewegen. Zweitens, wer weiß, was ich damit auslöste, wenn ich mich jetzt bewegte? Womöglich würde er aufspringen und mich packen. Mein dritter Gedanke war, dieser Mann, wer immer er auch war (mehr als den schattenhaften Umriss einer männlichen Gestalt konnte ich nicht erkennen), konnte keinesfalls damit gerechnet haben, mitten im Januar während eines fürchterlichen Wolkenbruchs in einem Unterstand am Strand von Eastbourne Gesellschaft zu bekommen. Ich war diejenige, die hier plötzlich aufgetaucht war. Ich war der Eindringling. Trotzdem saß mir die Angst im Nacken, so sehr, dass mir nichts anderes einfiel, als mich wie eine Bilderbuch-Engländerin zu benehmen.
»Guten Abend«, sagte ich höflich. Ich sprach laut gegen die brausende Kakophonie des Windes an und gab mir alle Mühe, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«
Als ich das sagte, wandte er den Kopf langsam in meine Richtung. Obwohl ich keine Einzelheiten in seinem Gesicht erkennen konnte, begann meine Furcht von diesem Moment an zu verfliegen. Keine Ahnung, warum. Ich weiß nur, dass der Haarkranz um seinen Kopf … eine gute Form hatte. Ich weiß, jetzt lachst du mich bestimmt aus, Jack. Lach nur, aber es war so. Er hatte eine ausgesprochen gute Form.
»Überhaupt nicht«, sagte er. »Es ist ein Vergnügen, etwas Gesellschaft zu haben. Es tut immer gut, einen anständigen Sturm mit anderen zu teilen.«
Seine Stimme, Jack. Voll, warm, beruhigend. Die Stimme eines gereiften Mannes, schätzte ich. Vielleicht Mitte sechzig. Ich hatte es ja schon immer mit Stimmen. William hatte eine wunderschöne Stimme, es sei denn, er war sauer und brüllte. Die Stimme dieses Mannes lud mich ein, dazuzugehören. Sie deutete an, dass ich bereits dazugehörte. Wir waren eine Gemeinschaft. Hört sich das lachhaft an? Ist es auch. Aber es war so. Wie schafft man das mit ein paar Worten? Ich seufze, während ich dies schreibe.
»Sind Sie von hier?«, fragte ich.
»Eigentlich nicht«, erwiderte er. »Ich habe das Glück, ein kleines Landhäuschen zu besitzen, ein paar Meilen von Wadhurst entfernt, ungefähr zwischen Hastings und Tunbridge Wells. Und Sie?
»Also, ich – ach, wissen Sie, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich etwas näher rücke, damit ich nicht so brüllen muss?«
»Warten Sie, ich rücke hinüber.«
Das hätte ein bisschen beunruhigend sein können, nicht wahr, Jack? War es aber nicht. Er rutschte ein paar Handbreit näher, lehnte sich auf der Bank zurück und streckte seine Beine vor sich aus.
»Besser?«
»Viel besser, danke. Ich habe eine Wohnung drüben auf der anderen Straßenseite, nur ein kleines Stück von hier. Eine sogenannte Gartenwohnung. Ein winziger Garten. Keine Treppen. Ich kann ein paar Schritte gehen. Es war ziemlich anstrengend für mich, jetzt hier herunterzuhumpeln. Aber Treppensteigen ist nichts mehr für mich.«
Er nickte langsam, sagte aber nichts mehr. Also beschloss ich weiterzureden:
»Dann sind Sie geschäftlich in Eastbourne? Oder besuchen Sie jemanden?«
»Weder noch. Ich mache hier Urlaub.« Er deutete mit einer Hand über seine Schulter nach hinten. »Eine Woche im Sheldon am Burlington Place. Sehr schönes Frühstück. Die bereiten es dort so zu, als wollten sie es selbst essen. Und das Wichtigste, der Kaffee ist gut.«
Ich überlegte.
»Sie machen im Januar in Eastbourne Urlaub? Haben Sie Familie oder Freunde hier?«
Er schmunzelte.
»Nein, auch das nicht – außer Ihnen, hoffe ich. Sie scheinen sehr nett zu sein. Ich war noch nie in Eastbourne. Und was den Urlaub im Januar angeht – nun ja. Ich habe wohl eine Schwäche für trübes Wetter. Hat wahrscheinlich damit zu tun, wie ich aufgewachsen bin. Wir alle vermissen hin und wieder auch das Trostlose. Ist das Nostalgie? Nein, nicht nur. Eine Rückkehr zu den Wurzeln vielleicht? Was auch immer, im Winter am Meer zu sein ist in einem solchen Fall genau das Richtige, finden Sie nicht? Wobei ich zugegebenermaßen ein erbärmlicher Schummler bin. Ich stehe nur zeitweise auf trübes Wetter. Im Sheldon ist es gemütlich warm, und die Handtücher sind dick und flauschig. Jede Menge brühheißes Wasser. Da lohnt sich ein Spaziergang im Sturm allein für das Vergnügen, wieder zurückzukommen.«
»Dann fiel Ihre Wahl rein zufällig auf Eastbourne?«
»Zufällig? Nein, überhaupt nicht. Ein Freund hat es mir empfohlen. Mein Freund George. Er kommt öfter hierher.«
Einen Moment lang kam es mir so vor, als ob er in der Dunkelheit mein Gesicht musterte.
»Erzählen Sie mir etwas von sich. Sie haben völlig recht. Es ist ein bisschen seltsam, im Winter Urlaub am Meer zu machen. Aber nicht so seltsam wie das, was Sie gerade getan haben. Was war so wichtig, dass Sie sich durch dieses scheußliche Wetter bis hierher durchgekämpft haben? Auf diesen mörderischen Stufen da oben hätten Sie leicht Schiffbruch erleiden können. Und niemand hätte es gemerkt. Ich bin froh, dass Sie gekommen sind. Es ist ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Aber für diese Expedition muss es doch bestimmt einen sehr guten Grund gegeben haben.«
Da habe ich ein bisschen die Nerven verloren, Jack. Ich war völlig baff, oder wie auch immer man das heutzutage ausdrückt. Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte. Also flunkerte ich. Ich sagte das, wovon ich mir wünschte, dass es die Wahrheit wäre.
»Das weiß ich selbst nicht so genau. Ich habe den ganzen Tag über drinnen gehockt. Da wollte ich mich vor dem Abendessen noch ein