Der Schattendoktor. Adrian Plass

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Der Schattendoktor - Adrian Plass

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ja, wie es einem im Januar manchmal gehen kann, Jack. Das ist wie so ein Langstreckenflug. Ich habe das nur einmal gemacht, als ich mit William seinen älteren Bruder in Australien besucht habe. Ich weiß noch, wie wir am Flughafen Gatwick in die Qantas-Maschine stiegen und die Kante des Vordersitzes ganz leicht mein Knie berührte. Überhaupt nicht unangenehm, weißt Du. Nur ein ganz leichter Druck. Aber als wir auf dem Flughafen Changi in Singapur zu unserer vierstündigen »Pause« zwischenlandeten, hatte sich diese harmlose Sitzkante in einen rotglühenden Metallspieß verwandelt, der sich in mein Bein bohrte, als wollte er nach Öl suchen. Ich weiß nichts mehr von Changi, außer, wie riesig der Flughafen war und was für ein herrliches Gefühl es war, von dieser gewaltsamen Attacke auf meinen eingepferchten Körper befreit zu sein. Für William war es natürlich noch schlimmer. Er war ja viel größer und dicker als ich. Aber er beklagte sich kaum. So ein Flegel, mir das ganze Jammern allein zu überlassen. Der alte Egoist.

       Jedenfalls empfinde ich den Monat Januar genauso, und ganz besonders diesen Januar im letzten Jahr. Du weißt ja, wie sehr ich Deinen Großvater geliebt habe und wie schwer es mir fiel, mich einer Zukunft ohne ihn zu stellen oder sie mir auch nur vorzustellen. Trauer ist etwas Furchtbares, Jack. Du hast es ja selbst erlebt und weißt, wovon ich rede. Ich glaube, wir haben unsere Trauer über den Tod Deines Vaters jeder auf seine Weise durchlebt, aber wir kamen gut miteinander aus, mit unserem Schweigen wie auch mit dem, was wir sagten. Es war für uns beide die richtige Art und Weise, und es funktionierte. Irgendwie haben wir es überlebt, oder?

       Aber weißt Du, Trauer geht nie ganz weg. Wir lernen wohl, unser Leben ein bisschen besser zu steuern, einfach über die Runden zu kommen, einfach in den Laden an der Ecke zu gehen und eine Dose Bohnen und einen Laib Brot zu kaufen. Aber das riesige Ungeheuer mit den scharfen Zähnen lauert immerzu irgendwo hinter einem Baum oder hinter der nächsten Ecke, um uns anzuspringen und zu packen und uns daran zu erinnern, dass tief im Innern der Schmerz in Wirklichkeit nie weniger geworden ist.

       Trotzdem war ich Ende Dezember sehr zufrieden mit mir. Statt über Weihnachten zu Hause zu sitzen und niedergeschlagen zu sein, hatte ich alle möglichen konstruktiven Pläne für Besuche bei und von Leuten gemacht, die ich mag (unter anderem von Dir, Jack), und Sachen zu unternehmen, für die ich mich schick machen und ein Taxi nehmen und mich richtig ins Zeug legen musste. Es schien sehr gut zu funktionieren. Ich machte nur einen Fehler.

       Ich ging nämlich an Silvester, dem schlimmsten Abend des Jahres für viele Leute wie mich, auf eine Seniorenparty in eine anglikanische Kirche in der Stadtmitte von Eastbourne. Ich hätte mir ausrechnen können, wie abgrundtief furchtbar das sein würde. Schüchternes Geplauder bei einem halben Glas warmem Weißwein, eingehende Erörterungen des Zustands unserer Beine, eine Runde Silvester-Bingo, bei der ich einen gehäkelten Eierwärmer gewann, der noch nicht ganz fertig war, und allgemeine gespielte Aufregung um zehn Uhr, als das Programm vorsah, dass wir uns nun gegenseitig auf die Wangen küssen und so tun sollten, als wäre es Mitternacht. Ich weiß nicht, ob Du schon einmal miterlebt hast, wie alte Leute sich unter solchen Umständen gegenseitig küssen, Jack. Senior/in A hält mit beiden zitternden Händen vorsichtig Senior/in Bs Kopf fest, damit dieser nicht durch den Druck des Speckschwartenkusses herunterkugelt und zu Boden stürzt wie eine dieser Steinkugeln, die manchmal die Gartentorpfosten vornehmer Häuser schmücken.

       Ich weiß, das hört sich gemein an. Es waren ja nette Leute, und es war natürlich auch alles furchtbar gut gemeint. Aber für mich war diese Ablenkung nun einmal ein Fehler, und es ging völlig nach hinten los. Sie fiel um wie ein bleierner Dominostein, der beim Fallen all die kleinen Säulen der Zufriedenheit mit sich riss, die ich mühsam um die ganze Weihnachtszeit herum aufgebaut hatte. Na ja, sehr stabil können sie wohl von Anfang an nicht gewesen ein. Als ich später am Abend auf dem Rücksitz eines teuren Taxis unterwegs zurück nach Hause war, bohrte sich der Schmerz eines Lebens ohne William so erbarmungslos in mich hinein, dass ich mich krümmte und kaum atmen konnte. Der lange Marsch meines einsamen Lebens fühlte sich an, als würde er ewig andauern, und nichts deutete darauf hin, dass ich je an einem besseren Ort ankommen oder dass der Schmerz je weniger werden würde.

       Wurde er auch nicht. Es wurde im Verlauf dieses öden Monats immer schlimmer. Ich geriet in einen dieser Teufelskreise, aus denen man einfach nicht herauskommt. Je niedergeschlagener ich wurde, desto weniger Lust hatte ich, Leute zu sehen, die mir wichtig sind, und je weniger Kontakt ich zu Leuten hatte, die ich liebe, desto tiefer baumelte ich über dem Abgrund wie dieser arme Kerl in der Geschichte von Edgar Allan Poe. Sei nicht böse, Jack. Du bist ein Schatz, was immer Du auch glaubst. Ich weiß genau, dass Du alles hättest stehen und liegen lassen und zu mir gekommen wärst, wenn Du etwas davon gewusst hättest, aber weißt Du, ich hatte einfach überhaupt keine Zuversicht mehr. Ich kauerte elend in einer kleinen, finsteren Welt ohne William. Mehr gab es nicht. Mehr war ich nicht.

       Jack, verzeih mir, wenn Dich das schockiert und verletzt, aber ich kam zu dem Schluss, dass ich nicht mehr leben wollte. Ich wusste zwar nicht, wie ich meinem Leben ein Ende setzen sollte, aber ich war entschlossen, dass ich es bald erledigen würde. Wenn auch nur die geringste Chance bestand, wieder mit meinem geliebten Mann vereint zu sein, dann war dafür kein Preis zu hoch. Und wenn jenseits des Grabes doch überhaupt nichts war, dann war es auch egal. Der Schmerz würde endlich vorbei sein, und die Leere würde mich verschlucken.

       Dann passierte es.

       Es war ein Donnerstag, und das Wetter an jenem Tag war das genaue Gegenteil von dem, was ich durchs Fenster vor mir sehe, während ich diesen Brief schreibe. Regen und Wind hatten seit dem frühen Morgen auf die Küste eingepeitscht. Als ich um sechs Uhr abends den Vorhang meines Wohnzimmers zur Seite zog, war der Himmel draußen so schwarz wie die Lücke in meinem Leben. Der Sturm schleuderte den Regen in mächtigen Fontänen auf das Pflaster auf der anderen Straßenseite. Abgesehen von den verwaschenen Scheinwerferstrahlen einiger vereinzelter Autos sah ich nur die Lichter der hübschen pastellfarbenen Lampen, die im vorigen Jahr entlang der Promenade aufgestellt worden waren, und selbst ihre massiven Mäste schienen von dem Sturm ordentlich durchgeschüttelt zu werden.

       Ich beschloss, vor dem Abendessen noch einen Spaziergang zu machen. Wieso nur? Was hat die verrückte Alice nur geritten? Frag nicht. Einfach durchgeknallt, nehme ich an. Im Radio habe ich irgendwann mal von einem Stamm in Afrika gehört, dessen junge Männer einen langen, harten Initiationsritus durchlaufen müssen, bevor sie als Erwachsene gelten. Einer der Stammesältesten wurde gefragt, warum ihnen all diese schmerzhaften Strapazen auferlegt würden. Seine Antwort war absolut verblüffend.

       »Wenn sie das nicht machen würden«, sagte er, »würden sie wahrscheinlich ihre Dörfer niederbrennen, nur, um die Hitze zu spüren.«

       So ähnlich war es wohl ein bisschen, als ich da hinaus in den Sturm ging, Jack. Ein mächtiger, brüllender Stimulus, um ein klaffendes Vakuum zu füllen. Und überhaupt, wieso denn nicht? Da gab es nichts zu fürchten. Wenn ich hinunter zum Strand ging und eine Sturmbö der Stärke zehn mich packte und hinaus in den Ärmelkanal schleuderte, würde ich nur Dankbarkeit empfinden. Überfahren zu werden hätte mir genauso gut gepasst, solange das Auto nur groß genug war und ordentlich Tempo draufhatte. Allerdings zog ich mich passend für das Wetter an. Was hätte meine Mutter dazu gesagt, wenn ich nicht meinen Regenmantel angezogen hätte. Lach nicht. Solche praktischen, banalen Gewohnheiten sind schwer totzukriegen. Und außerdem ging es mir schon immer gegen den Strich, meine liebe Mutter zu verärgern.

       »Schön und gut, wenn du dich umbringen willst, Alice«, hätte sie vielleicht gesagt, »aber deshalb musst du ja nicht gleich in so ein scheußliches Wetter hinausgehen, ohne dich ordentlich einzupacken.«

       Ich schaffte es, die Straße zu überqueren, ohne irgendwelche Verkehrsstörungen auszulösen, und kämpfte mich dann, sehr mühsam wegen meiner blöden Beine, die Promenade entlang bis zu dem alten viktorianischen

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