Ideologie, Kultur, Rassismus. Stuart Hall
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Für das Projekt Ideologie-Theorie (1977–1985) wurden diese Arbeiten zu einer Art von Gründungstexten. Von hierher las man Althusser und Gramsci neu, arbeitete schließlich die marxistischen Positionen in der Ideologiefrage auf. In den daraus resultierenden Theorien über Ideologie (1979, Argument-Sonderband 40) ist Stuart Halls Einfluss nicht nur durchweg zu spüren, sondern von ihm stammt auch der historische Abriss über Ideologie und Wissenssoziologie in bürgerlicher Tradition (Kapitel 7). In der Camera obscura der Ideologie (1984, Argument-Sonderband 70), einem Band mit drei Bereichsstudien des Projekts Ideologie-Theorie über Philosophie, Ökonomie und (Natur-) Wissenschaft, taucht Stuart Hall wiederum als einer der drei Autoren auf. Man kann sagen, dass die Veröffentlichung des vorliegenden Bandes eine späte Folge dieser Zusammenarbeit ist.
In der Kampagnenanalyse, die das Buch Policing the Crisis: Mugging, the State, and Law and Order (1978) liefert, verbindet sich das den Jugendkulturarbeiten eignende Moment der Empathie mit der These von den hegemonialen Strukturen der Ideologietheorie. Ausgangspunkt war hier die in den britischen Medien geschürte, rassistisch besetzte Hysterie vor der gewalttätigen Straßenkriminalität, die hauptsächlich jungen Schwarzen angelastet wurde. Hall, wie erwähnt selbst Westinder, und seine Ko- Autoren zeigen, wie der durch die Wirtschaftskrise brüchig gewordene gesellschaftliche Konsens durch die Panikmache vor dem mugging zusammengekleistert wird, wobei reale Erfahrungen und irreale Ängste gerade auch »kleiner Leute« mobilisiert und zielverschoben eingesetzt werden: In der Abschottung von den stigmatisierten schwarzen Jugendlichen wird die Nation erneut auf die staatstragende Eigentumsideologie eingeschworen, so als hätten die Mugger mit ihren bei brutalen Überfällen entwendeten Brieftaschen die Institution des Privateigentums überhaupt in Frage gestellt. (Begriffe wie »Konsens« und »Hegemonie« signalisieren den Bezug auf Gramsci, der hier gewissermaßen als Korrektiv zu Althusser fungiert.)
Staatstheoretische Ableitung und aktuelle politische Analyse fließen auch in den Schriften über den Thatcherismus zusammen, den Hall schon früh als äußerst ehrgeiziges Projekt begriffen hat, die gesamten sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit zurückzurollen und unter geschicktem Einsatz populistischer Rhetorik längst residual geglaubte viktorianische Werte wie Eigeninteresse, Konkurrenz, Strebsamkeit, Nation, Familie, Pflichtgefühl usw. wiederzubeleben und aggressiv durchzusetzen. Zunächst in der Zeitschrift Marxism Today erschienen, deren ständiger Mitarbeiter Hall ist, sind diese Aufsätze zum Teil in The Politics of Thatcherism (1983) gesammelt. Durch die Zugehörigkeit zum »advisory board« von Marxism Today, der attraktiv gestalteten und monatlich in 17000 Exemplaren vertriebenen Zeitschrift des eurokommunistischen Mehrheitsflügels der britischen KP, bekennt Hall auch politisch Farbe, wobei sich die Einschätzung, eine sozialistische Alternative zum Stalinismus wie zur Sozialdemokratie zu finden, bis auf das gemeinsam mit Williams und Thompson 1967/68 verfasste May Day Manifesto zurückverfolgen lässt.
Februar 1989 | H. Gustav Klaus |
1 Stuart Hall blieb bis 1979 am CCCS in Birmingham. Seither ist er Professor für Soziologie an der Open University
Das »Politische« und das »Ökonomische« in der marxschen Klassentheorie
Die Grenzen dieses Artikels liegen auf der Hand. Ein umfassender oder systematischer »Überblick« über die marxsche Klassentheorie kann hier nicht geboten werden. Erstens, weil Klassen, Klassenverhältnisse und Klassenkampf Begriffe sind, die im Zentrum von allem standen, was Marx geschrieben hat – einschließlich natürlich des Kapitals, seinem Hauptwerk über die »Bewegungsgesetze« der kapitalistischen Produktionsweise, in dem das Thema »Klassen« ganz ans Ende verlegt ist und auf geradezu peinigende Weise unvollständig bleibt. Eine umfassende Würdigung von »Marx zum Thema Klassen« würde daher auf die Rekonstruktion seines gesamten Werkes hinauslaufen. Zweitens, weil es die »Klassentheorie« im Sinne einer homogenen Einheit oder eines homogenen Gegenstandes bei Marx gar nicht gibt. Marx hat in jeder wichtigen Phase seiner Arbeit über Klasse und Klassenkampf geschrieben. Wir wissen, dass diese Texte einen unterschiedlichen Stellenwert haben und mit unterschiedlichen Absichten geschrieben wurden, und dass dies entscheidend dafür ist, auf welcher Ebene, unter welchem Aspekt und auf welchem Abstraktionsgrad die Frage behandelt wurde. Die Polemik gegen den Linkshegelianismus in der Deutschen Ideologie, die programmatische Absicht und rhetorische Vereinfachung im Kommunistischen Manifest, die Analyse der politischen Konstellation in den Klassenkämpfen in Frankreich, die theoretische Arbeit in den Grundrissen und im Kapital – in jeder dieser Schriften wird das Problem der Klassen aufgrund der verschiedenen Stoßrichtungen und Adressaten in unterschiedlicher Weise gestellt.
Aus Marx’ eigenen Kommentaren und seiner Korrespondenz – zum Beispiel in Bezug auf den unterschiedlichen Aufbau in den »Arbeitsheften« der Grundrisse und im Kapital – wissen wir, dass er die Frage der Darstellungsweise sehr ernst nahm. So schrieb er z.B. in seinem Brief an Weydemeyer am 1. Februar 1859 über die beabsichtigte Publikationsfolge der ersten vier Abschnitte des ersten Bandes des Kapital:
»Du begreifst die politischen Gründe, die mich bewogen, mit dem 3. Kapitel über ›Das Kapital‹ zurückzuhalten, bis ich wieder Fuß gefasst habe.« (Marx/ Engels 1972, 195)
Drittens wissen wir, dass all diese verschiedenen Texte bis zu einem gewissen Grad auch durch die Problematiken begrenzt und geprägt wurden, in deren Rahmen Marx zum jeweiligen Zeitpunkt dachte und schrieb. Mit der Entwicklung des marxschen Denkens wandelten und veränderten auch sie sich. Althusser konstatiert zu Recht, dass Marx’ »Entdeckungen« zum Teil entscheidend mit den »Brüchen« zwischen den jeweiligen Problematiken zusammenhängen. Wir müssen nicht unbedingt die Rigidität und Totalität akzeptieren, in der Althusser mit Hilfe des »epistemologischen Einschnitts« das marxsche Werk »periodisiert« – zumal sich Althusser selbst später davon distanziert hat (vgl. die Haupt»revisionen« in Althusser 1976). Aber seine Intervention verhindert, dass wir Marx jemals wieder in einer Weise lesen, die, mittels eines prospektiv-retrospektiven Taschenspielertricks, einen einzigen, homogenen »Marxismus« konstituiert, der sich stets auf einer vorgezeichneten Bahn bewegt, von den ökonomisch-philosophischen Manuskripten über den Bürgerkrieg in Frankreich bis zu seinem vorgegebenen teleologischen Ziel. Eine derartige Lesweise tut nicht nur Marx Unrecht, sie gibt auch ein falsches und irreführendes Bild von der Art, wie theoretische Arbeit auszusehen hat, und sie verschleiert die Rückzüge und Umwege, durch die diese voranschreitet und sich entwickelt. Sie fördert in uns einen »faulen« Marxismus, da sie ja nahelegt, für uns gäbe es keine kritische Arbeit mehr zu leisten, wir brauchten uns nicht ernsthaft mit den Differenzen und Entwicklungen im marxschen Werk auseinanderzusetzen – alles, was uns zu tun bleibt, ist, uns auf die »Offensichtlichkeit« des »Marxismus« zu verlassen, die in allen Texten von Marx latent schlummert. Diese Art marxistischen »gesunden Menschenverstandes« hat dem Marxismus als einer lebendigen und sich entwickelnden Praxis enorm geschadet, ebenso dem notwendigen Streit innerhalb der Theorie selbst.
Teilweise wird es also um eine spezifische Praxis des Lesens gehen – eine, die versucht, die Logik der Argumentation und des Aufbaus eines Textes festzuhalten, und zwar vor dem Hintergrund der Thesen und Begriffe, die den Diskurs des Textes ermöglichen, ihn hervorbringen. Vieles von dem, was anhand einer begrenzten Anzahl von Passagen und Texten hier diskutiert werden wird, beruht auf der Entwicklung einer solchen theoretischen Arbeitsweise. Sie beinhaltet auch, einen Text nicht einfach als solchen, als etwas Geschlossenes hinzunehmen. Das gilt sowohl für die Stellen, an denen der Text offensichtlich »ins Auge springt«, als auch für die, an denen er offensichtlich komplex oder dunkel ist. Der Klassenkampf ist in jeder Zeile und in jedem Abschnitt des Kommunistischen Manifests geradezu handgreiflich präsent. Aber der Klassenbegriff, auf dem dieser Text beruht, ist, wie wir hoffentlich werden zeigen können, nicht von der glänzenden Oberfläche her unmittelbar fassbar. Das Kapital ist das genaue Gegenteil – ein komplexer theoretischer