Gesang der Lerchen. Otto Sindram

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Gesang der Lerchen - Otto Sindram

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Mauer entlang. Inge schwärmte für Christian und war erfreut, wenigstens zeitweilig an seiner Seite sitzen zu dürfen. Christian war weniger erfreut über seine neue Nachbarschaft.

      »Ich mache keine Entjungferung«, sagte er zu Philipp.

      Er respektierte Inge aber als eine gute, strebsame Schülerin, denn sie schrieb bis auf wenige Ausnahmen die besten Klassenarbeiten. Nur in Mathe hatte sie ihre Schwächen. Ordeich, der Mathe-Lehrer, gab ihr daher privaten Nachhilfeunterricht.

      Ordeich war ein Lehrer, der glaubte die Welt mit den Gesetzen der Mathematik erklären zu können. Er war über fünfzig, groß, gebeugt, und er trug eine Brille, wie man sie von den Fotos des Revolutionärs Trotzki kennt. Mit seiner von einem Haarkranz eingefassten Glatze, seinen kleinen Augen, schmalen Lippen und gelben Zähnen machte er einen asketischen Eindruck. Neben seiner Disziplin ließ Ordeich nur noch den Kommunismus gelten, weil − wie er nicht aufhörte zu betonen − der Historische Materialismus sich zwangsläufig aus den Gesetzen der Mathematik ergäbe.

      Eines Morgens stand ein Mann vor dem Gebäude der VA mit einem Schild in den Händen, auf dem in großen Buchstaben geschrieben stand: Gott lebt! Darunter stand kleiner: Beweis: Die Zahl Pi ist endlich, nur Gott ist unendlich. Die Schüler wussten natürlich, dass die Zahl Pi, bekannt als die Ludolfsche Zahl zur Kreisberechnung, unendlich ist, und sie gingen lächelnd an dem seltsamen Demonstranten vorbei, ohne sonderlich Notiz von ihm zu nehmen.

      Als der Mann, bekleidet mit einem weißen Gewand und Sandalen an den bloßen Füßen und mit seinem langen Bart einem Propheten gleichend, am folgenden Morgen wieder vor dem Gebäude stand, bat Ordeich ihn nach oben in den Klassenraum. Der Mann, dessen Alter schwer zu bestimmen war, betrat den Raum, grüßte freundlich nach allen Seiten, bedankte sich für die Aufnahme und setzte sich auf einen für ihn freigemachten Stuhl in die erste Reihe.

      Und dann bewies Ordeich ihm und der Klasse mit wenigen mathematischen Gleichungen, dass Pi unendlich ist und es also in der Unendlichkeit der Welt keinen Platz für einen Gott gäbe. Der Mann stand auf, bedankte sich artig bei Ordeich und den Schülern und verließ den Klassenraum.

      »Wehe uns Menschen, wehe uns!«, sagte er beim Hinausgehen.

      »Solche Spinner wird es in einer kommunistischen Gesellschaft nicht mehr geben«, sagte Ordeich und begann mit dem Unterricht.

      Auf dem Heimweg sprach Sophie Philipp auf den seltsamen Besucher an.

      »Gibt es einen Gott?«

      Philipp war erstaunt über ihre Frage.

      »Ich weiß es nicht. Man sagt ja, an Gott kann man glauben oder nicht glauben. Einen Beweis gibt es nicht. Wieso fragst ausgerechnet du so etwas? Wo bleibt deine marxistische Wissenschaft?«

      »Wenn es aber nun doch einen Gott gibt?«

      »Ja, mit diesem Zweifel werden wir beide wohl leben müssen. Das macht mir auch keine Sorgen. Angst machen mir nur Leute, die alles erklären können.«

      »Wie Ordeich?«

      »Wie Ordeich!«

      Der Chemieunterricht war beliebt. Die Experimente waren zwar aufwändig, aber sie fesselten die Schüler und brachten Dr. Kuhnert den Ruf des besten Dozenten in der VA ein.

      Philipp profitierte durch seine Assistententätigkeit von dem Ruhm und galt in der Klasse bald als Experte im Fach Chemie. Das zwang ihn dazu, in der Singakademie und zusätzlich noch zu Hause besonders fleißig die Hausaufgaben zu erledigen, um seinen guten Ruf nicht zu gefährden.

      Ruth bewunderte Philipp und jedes gelungene Experiment, an dessen erfolgreichen Ausgang er mitgewirkt hatte. Sie freute sich auf die Chemiestunden und auf die Zeit, in der Philipp neben ihr saß.

      »Bleib doch in den anderen Stunden auch hier sitzen«, bat sie.

      Aber Philipp wollte es Christian nicht antun, dass Inge mehr als nötig an dessen Seite verweilen musste. Er wusste, wie sehr dieser das Ende der Stunde herbeiwünschte, um die »Jungfrau« − wie er Inge nannte − wieder loszuwerden.

      »Stell dir vor«, sagte Christian nach einer Chemiestunde, »die ›Jungfrau‹ hat mir eben unter dem Siegel größter Verschwiegenheit erzählt, der Ordeich würde sie erpressen, und sie müsse es in den Nachhilfestunden in seiner Wohnung mit ihm treiben.«

      »Der Ordeich hat eine Frau und Kinder, das fiele doch auf.«

      »Hab ich auch gesagt. Aber sie erzählte mir, die Frau habe absolutes Zutrittsverbot und den Auftrag, in der Zeit der Nachhilfe niemanden in das Zimmer zu lassen.«

      Philipp grinste.

      »Dem Ordeich wäre das zuzutrauen. Er vögelt eine Achtzehnjährige, und seine Frau muss während dieser Zeit die Tür zuhalten.«

      »Ach was, ist doch Blödsinn! Die ›Jungfrau‹ ist hysterisch und will sich nur interessant machen.«

      Damit war für Christian die Sache erledigt. Philipp bekam Zweifel. Er bat Ruth, möglichst diplomatisch bei Inge zu sondieren. Inge aber war sehr verschlossen und verriet sich mit keinem Wort. Nach einigen Versuchen gab Ruth es auf. Philipp und sie beschränkten sich darauf, Ordeich und Inge zu beobachten. Zuerst bemerkten sie nichts, dann aber registrierten sie, dass Inge nicht nur in Mathe, sondern auch in den anderen Fächern nachließ und schlechte Zensuren bekam. Die Dozenten taten verwundert und richteten aufmunternde Worte an sie, beließen es aber dabei.

      Da ergriff Ruth die Initiative. Während Philipp, Christian und sie über ihren Schularbeiten saßen, machte sie den Vorschlag, der Sache mit Inge auf den Grund zu gehen. Sie sollten in einer Nachhilfestunde bei Ordeichs zu Hause aufkreuzen, sich von der Frau nicht abweisen lassen und in das Zimmer stürmen. Dann werde man ja sehen.

      »Eine blöde Idee«, sagte Christian. »Was machst du, wenn sie Mathe machen und sonst nichts?«

      »Dann lassen wir uns eine komplizierte Aufgabe erklären«, versuchte Ruth ihn zu überzeugen.

      »Das glaubt der mir nie, außerdem weiß dann Inge, dass ich gequatscht habe.«

      »Da hat er Recht«, warf Philipp ein, »uns beiden glaubt man auch eher, dass wir Schwierigkeiten in Mathe haben.«

      »Also gehen nur wir zwei hin«, sagte Ruth.

      Und so machten sie es. An einem schönen Sommernachmittag gingen sie los, suchten die Straße und das Haus. Auf der Hinweistafel im Hausflur fanden sie den Namen angezeigt. Sie stiegen die Treppen hoch und drehten die Klingel. Als Frau Ordeich öffnete, grüßten sie kurz, drängten sich an ihr vorbei in die Wohnung und fragten nach ihrem Mann. Und richtig, Frau Ordeich stellte sich vor eine Zimmertür und gab den Eindringlingen zu verstehen, dass der jetzt nicht gestört werden dürfe. Ruth schob die Frau zur Seite und stürmte ins Zimmer, Philipp hinterher. Da saßen Ordeich und Inge sich gegenüber und weit entfernt voneinander an einem Tisch. Er diktierte ihr gerade eine Aufgabe. Nun sprang er auf.

      »Nein so was! Das ist ja mal eine nette Überraschung! Kommen Sie, setzen Sie sich! Marlene, mach uns einen Kräutertee!«

      »Wir möchten − wir dachten − wir können nicht − eine schwere Aufgabe ...«, stammelten Philipp und Ruth.

      »Schön, schön, aber das hat doch Zeit«, sagte Ordeich. »Wir sind dankbar

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