Gesang der Lerchen. Otto Sindram
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»So wird eine neue Intelligenz geschaffen, mit der man dann den Sozialismus aufbauen kann. Und was die Mathematik betrifft, das gibt es einfach nicht, dass einige dafür mehr, andere weniger begabt sind. Der Mensch ist ein Produkt seiner Verhältnisse, und wer lernt, der wird auch ein guter Mathematiker. Auch wenn man mal eine Phase hat, in der es nicht so klappt. Das kriegen wir schon wieder hin, nicht wahr, Fräulein Schüller?«
Dabei schaute er Inge an. Die nickte nur. Sie tranken den Tee. Ordeich erzählte, dass sie ihn selber sammelten und dass er und seine Frau schon immer für eine gesunde und einfache Lebensweise waren, auch schon, als es noch genügend zu kaufen gab. Er löste und erklärte die mitgebrachte Aufgabe, gab sich ganz ohne Misstrauen und verabschiedete seine Gäste endlich mit vielen guten Ratschlägen für das weitere Studium.
»Entweder ist er ein ganz abgebrühter, eiskalter Hund, oder die Inge hat geflunkert«, sagte Philipp auf dem Heimweg.
»Ich glaube fast, Christian hat Recht, die Kleine ist hysterisch und wollte sich vor ihm nur interessant machen«, meinte Ruth.
Am nächsten Tag kam Inge nicht zum Unterricht. Auch zu Beginn der Geographiestunde am übernächsten Tag war sie noch nicht erschienen. Dann klopfte es. Köhler brachte seinen Zeigestock in Schussposition und watschelte in Richtung Tür. Aber es waren keine Zuspätkommer, sondern zwei unbekannte Männer, die darum baten stören zu dürfen. Mit ihnen kam Reitmann in die Klasse. Er stellte die Männer als Kriminalbeamte vor.
»Wo ist der Platz von Inge Schüller?«
Ruth deutete auf den Stuhl neben sich.
»Hier!«
»Ist Ihnen oder sonst jemandem in letzter Zeit irgendetwas am Verhalten von Fräulein Schüller aufgefallen?« fragte der ältere Beamte.
»Nein, nichts«, sagte Ruth, und auch die anderen in der Klasse schüttelten die Köpfe.
»Ihre Leistungen, die haben nachgelassen, jawohl, nachgelassen«, meldete sich Köhler auf seinem Stock gestützt. »Aber das wird schon wieder, wird schon wieder, und in Geographie, da ist sie noch ganz gut, ganz gut ist sie da noch.«
»Fräulein Schüller ist gestern an einer Überdosis Tabletten gestorben«, sagte der Beamte.
Nach dem Unterricht ging Christian in den Musikraum und spielte den ersten Satz der Pathétique-Sonate. Philipp und Ruth folgten ihm. Als er fertig war, bat Ruth sie beide, mit rauszufahren und spazieren zu gehen. In der S-Bahn schwiegen sie, und auch auf dem Strandweg am Müggelsee redeten sie nicht über Inge.
»Lasst uns schwimmen«, sagte Christian plötzlich.
»Ohne Badeanzug?«, fragte Ruth.
»Na klar, hier ist doch kein Mensch.«
»Gut, gehen wir schwimmen«, sagte Philipp.
Sie fanden eine geschützte Stelle, entkleideten sich und stiegen ins Wasser. Am Anfang schwammen sie ruhig hintereinander in Richtung Seemitte, zuerst Christian, dann Philipp und als letzte weitab Ruth. Plötzlich tauchte Christian weg, kam wieder hoch, schnaubte, grunzte und bespritzte Philipp mit Wasser. Der rächte sich und drückte Christian unter.
»Hilfe, Ruth, rette mich, ich bin ein kostbares Mathe-Genie!«
»Nein, rette mich, ich bin ein künftiger Nobelpreisträger!«, konterte Philipp.
»Wenn wir noch weiter rausschwimmen, dann müsst ihr gleich mich retten«, meldete sich Ruth.
Christian war sofort dafür.
»Oh ja! Ruth retten, komm, wir retten Ruth!«
Sie schwammen zu ihr zurück.
»Leg dich auf den Rücken«, bat Christian und fasste sie am Arm unter. Philipp fasste ihren anderen Arm. So drehten sie mit ihr eine große Runde.
»Herrlich!«, rief Ruth und genoss es, bewegungslos auf dem Wasser zu liegen und doch zu schwimmen.
Zuletzt schwammen die »Retter« mit ihr auf das Ufer zu, zogen sie noch einige Meter über den Strand und legten sie ab.
»Wiederbelebung!«, rief Christian, kniete neben sie, holte tief Luft und gab ihr einen langen Kuss. Ruth schaute Philipp an, der kniete ebenfalls nieder und gab ihr einen ebenso langen Kuss. Als Christian sich ihr wieder nähern wollte, wehrte sie ab.
»Mir wird kalt.«
Christian holte sein Unterhemd und begann sie damit abzutrocknen. Philipp holte ebenfalls sein Unterhemd und machte es Christian nach. So trockneten sie Ruths Haar und ihren Körper bis zu ihren Füßen. Während die Männer sich anschließend selber abtrockneten, schauten sie sich an. Da wussten sie, dass es geschehen würde. Vom See her wehte ein leichter Wind. Aus den Bäumen am Rande des Uferweges hörte man leise das Rauschen der Blätter, sonst war es still. Drei Menschen aber liebten sich.
»Wo warst du gestern Abend?«, fragte Sophie am nächsten Morgen auf dem Weg zum Unterricht. »Ich war so traurig, wollte mit dir reden. War noch bei deiner Wirtin, die wusste auch nichts. Ich wollte auf dich warten, aber sie hat mich nicht reingelassen.«
»Der werd ich mal die Meinung sagen. Da muss ich doch wohl bald ausziehen.«
»Warst du denn nicht traurig gestern?«
»Ja«, sagte Philipp, »sehr traurig; ich war spazieren.«
»Schade, ich wäre gerne mitgegangen.«
Der Sommer erreichte seinen Höhepunkt, das Semester ging zu Ende. Philipp wollte versuchen einen Interzonenpass zu bekommen. Beinahe ein Jahr hatte er seine Eltern und die Heimat nicht mehr gesehen. Zu seinem Antrag an die Sowjetische Militär-Administration musste er drei Exemplare seines Lebenslaufes schreiben und drei Passbilder beilegen. Weil er sich die Sowjets geneigt für die Genehmigung machen wollte, hatte er seinen Lebenslauf mit den Worten begonnen: Geboren wurde ich als Sohn des Bergarbeiters Paul Siebert ...
Am letzten Unterrichtstag brachte Seiter die Zeugnisse mit.
»Es gehen fast alle weiter, bis auf zwei«, sagte er. »Herr Klein hat es geschafft. Sie haben in allen Fächern gute Zensuren, aber in Gesellschaftlicher Arbeit hat es nicht gereicht. Klassensprecher zu sein, das genügt allein wohl nicht.« Er ging auf Wilfried zu und gab ihm die Hand. »Meinen Glückwunsch. Als neuer Klassensprecher ist von der Schulleitung Genosse − oh Verzeihung, Herr Peitz bestimmt worden. Ja, und nun zu dem zweiten. Da muss ich mir wohl selber gratulieren. Bei mir hat es auch nicht gereicht. Heute ist mein letzter Tag bei Ihnen.« Er verteilte die anderen Zeugnisse und redete weiter. »Wissen Sie, ich war sehr gerne bei Ihnen. Die Idee, das Bildungsprivileg des Bürgertums aufzuheben, Arbeiter- und Bauernkinder zu fördern, ist schon eine dolle Sache, wenn es auch nicht ganz neu ist. Ich selber habe in der Studienzeit mein Kratzen gehabt. Mein Vater