Gesang der Lerchen. Otto Sindram

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Gesang der Lerchen - Otto Sindram

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zu lassen.

      Dann besetzten französische und belgische Soldaten das Ruhrgebiet. Paul las in der Zeitung, dass Deutschland mit seinen Reparationslieferungen, besonders mit der Lieferung von Kohle, im Rückstand war. Er wusste, dass die Franzosen und die Belgier schon seit einiger Zeit den Duisburger Hafen und Ruhrort besetzt hielten. Aber das war ihm gleichgültig. Was ging ihn der Hafen an! Jetzt aber betraf es ihn ganz unmittelbar.

      Die Besatzer teilten in einem Erlass mit, die deutsche Bevölkerung dürfe die Bürgersteige nicht benutzen, sondern müsse auf der Straßenmitte gehen; es sei verboten, die Hände in den Hosentaschen zu haben, die leeren Handflächen müssten immer sichtbar vorgezeigt werden. Und sie verhängten eine Ausgangssperre für die Zeit der Dunkelheit von frühabends bis morgens.

      Das war eine Katastrophe! Was sollte aus den Tanzabenden werden? Die Bergarbeiter im Schichtdienst bekamen zwar einen Nachtausweis, um den Weg zur Zeche und nach Hause gehen zu dürfen. Damit konnte man auch schon mal einen Gang abseits vom vorgeschriebenen Wege wagen. Wo aber sollten sie die Mädchen verstecken, wenn die Besatzungssoldaten kontrollierten?

      An einem Sonntagnachmittag stand Paul mit einigen Tanzfreunden bei Hermann am Tresen. Sie berieten, was zu tun sei und wie sie heimlich die Mädchen in das Lokal und wieder heim schaffen könnten. Da machte ein älterer Kumpel, der in Hut und Mantel und mit Bier schon gut abgefüllt daneben stand, einen Vorschlag.

      »Tanzt doch nachmittags.«

      Alle schauten ihn überrascht an. Wie doch der Alkohol den Geist beflügelte! Das war die Lösung. Ab sofort gab es bei Hermann an den Sonntagen Tanznachmittage, die bis zum Beginn der Sperrstunde dauerten. Lisa Krüger durfte trotz ihrer gut achtzehn Jahre bisher nicht zum Tanzen. Ihre Mutter erlaubte es nicht, und auch ihr Bruder Hännes, der älter war als Lisa, äußerte Bedenken. Er wusste aus eigenem Erleben, was sich nach einem solchen Tanzabend in der Nacht auf den Parkbänken und hinter den Büschen tat.

      Josepha und Jacob Krüger wohnten schon von Anfang an in der Neuen Kolonie. Die Eheleute waren, aus dem Magdeburgischen kommend, dort eingezogen, als Jacob auf der Zeche als Bergmann anfing. Die Krügers hatten sechs Kinder, und weil sie eine gute katholische Familie waren, trugen alle Kinder biblische Namen.

      Lisa hieß eigentlich Elisabeth, aber niemand, außer manchmal ihre Mutter, nannte sie so. Sie war ein eher stilles Kind und wurde als Nesthäkchen der Familie von den Geschwistern leicht an den Rand gedrückt. Schlank, blond, mit einem offenen Gesicht und mit blauen Augen war sie von allen wohlgelitten, ließ sich aber auch leicht ausnutzen. Ihre Brüder hießen Joseph und Johannes, wurden aber Jupp und Hännes gerufen. Ihre Schwestern Maria, Margarete und Katharina hörten auf Mariechen, Grete und Kat. Lisa lebte als Einzige noch bei ihren Eltern. Sie war nach der Lehre als Schuhverkäuferin bei einem Juden eingestellt worden, kam aber abends heim.

      Als bekannt wurde, dass das Tanzen nun nachmittags stattfand, erlaubte die Mutter Lisa die Teilnahme unter der Bedingung, dass sie mit ihrer Freundin hinging, beide dort zusammenblieben und dass Lisa auch mit der Freundin wieder heimkam. Sie versprach es. Anfangs saßen die beiden auch wirklich gemeinsam an einem Tisch vor ihren Limonaden. Als Paul aber Lisa das erste Mal zum Tanzen holte, war die Freundin schon nicht mehr zu sehen.

      Paul erklärte Lisa die ersten Tanzschritte und lobte sie als sehr gelehrig. Nach einigen Tänzen waren sie erhitzt, gingen vor die Tür und hinter das Haus. Kurz vor der Sperrstunde fand sich die Freundin wieder ein, und die beiden Mädchen gingen brav zusammen heim.

      Nach drei Monaten war Lisa schwanger. Sie sagte Paul nichts davon, beichtete es aber ihrer Mutter. Josepha verprügelte erst ihre Tochter, bestellte dann Paul zu sich, holte ihren Mann dazu, und gemeinsam besprachen sie die Hochzeit. Paul musste schwören, dass es eine katholische Trauung werde und dass alle Kinder katholisch erzogen würden.

      Kurz vor dem Hochzeitstermin informierte Paul seinen Vater. Ferdinand tobte, als er hörte, Paul werde zu den Schwiegereltern ziehen. Was würde die Zeche dazu sagen, wenn niemand aus der Scheune mehr dort arbeitete? Er sah sich schon auf die Straße gesetzt. Es war trotz der schweren Zeit eine schöne Hochzeit. Paul bekam von einem Kumpel einen dunklen Anzug geliehen. Josepha änderte für Lisa ein weißes Brautkleid, in dem auch schon die Schwestern vor den Altar getreten waren.

      Vier Monate nach der Trauung bekam Lisa ihr erstes Kind, es war ein Mädchen, und sie nannten es Guste, nach Pauls verstorbener Mutter. Kurz nach der Geburt seiner Tochter zog Paul in die Neue Kolonie. Josepha bestimmte, dass Jacob, den sie schon lange aus ihrem Schlafzimmer verbannt hatte, sein Bett in die Dachkammer stellte. Das junge Paar bekam ein Zimmer in der Krügerschen Wohnung, gekocht wurde gemeinsam. Paul gehörte jetzt zur Familie Krüger.

      Jacob und Josepha hatten sich auf einem Gut im Magdeburgischen kennen gelernt. Genau genommen hatte Jacob, wie er manchmal scherzhaft zu sagen pflegte, seine Frau auf der Straße aufgelesen.

      Er war herrschaftlicher Kutscher beim Herrn Baron. Josepha kam aus Schlesien und war aus einer kinderreichen Familie. Als sie feststellte, dass in ihrer Familie kein Platz mehr für sie war und sie in ihrer Heimat keine Bleibe und keine Arbeit finden konnte, nahm sie ein Tuch, schnürte ihre Kleider darin zusammen und wanderte bis in die Magdeburger Börde. Jacob, der gerade den Herrn Baron zu einer Landwirtschaftsmesse kutschiert hatte und auf dem Rückweg war, erlaubte ihr, ein Stück mitzufahren. Sie kamen ins Gespräch und stellten fest, dass sie beide katholisch waren. Jacob nahm Josepha mit, und durch seine Vermittlung bekam sie Arbeit auf dem Gut, wurde bei der Feldarbeit eingesetzt und durfte im Winter der Köchin in der Küche helfen.

      Mit ihrer großen, schlanken Gestalt, ihrem langen, blonden Haar, das sich glatt um ihr Gesicht legte und das sie hinten zu einem Knoten zusammengebunden trug, war sie nicht zu übersehen. Wenn sie in ihren weiten, bis zu den Fußspitzen reichenden Röcken mit weit ausholenden Schritten daherkam, beeindruckte sie die jungen Männer, so auch Jacob. Auch Josepha fand Gefallen an Jacob und war ihm vor allem dankbar. Mittelgroß, schlank und mit kurzem, aber vollem, schwarzem Haar und einem ebenso schwarzen Schnurrbart, einer großen, geraden Nase und lustigen Augen machte er den Eindruck eines Menschen, dem man vertrauen konnte. Er bot Josepha an, ihn zu heiraten und zu ihm in die Kutscherkate zu ziehen. Josepha sagte ja.

      Als sich Jahr für Jahr bei ihnen ein Kind einstellte, sahen sie, dass die Familie auf dem Gutshof keine Zukunft haben werde. Jacob bemühte sich und fand durch einen Freund eine Stelle als Bierkutscher bei der Schultheiss-Brauerei in Berlin. Der Herr Baron erlaubte, dass Josepha mit den Kindern noch so lange in der Kutscherkate wohnen bleiben konnte, bis ihr Mann eine Wohnung in Berlin gefunden hatte. Jacob machte die neue Arbeit Spaß. Wenn er mit dem Gespann durch Berlin fuhr, vor sich vier schwere Pferde in ihrem schmucken Geschirr, an dem die Messingbeschläge glänzten, hinter sich den Wagen mit den kunstvoll gestapelten, blankgeputzten Bierfässern aus gutem Buchenholz, dann genoss er es, dass die Berliner stehen blieben und staunten.

      Aber Jacob hatte Pech mit seiner Kutscherstelle, und daran war kein geringerer schuld als Seine Majestät der Kaiser höchstpersönlich. Es war ein schöner Frühlingstag, Jacob war mit dem Gespann unterwegs. Die frischgeputzten Messingbeschläge am Geschirr der Pferde blinkten an diesem Tage ganz besonders, und die Berliner winkten freundlicher als sonst.

      An einer Kreuzung geboten ihm plötzlich zwei Gendarme zu halten. Die Weiterfahrt war gesperrt, weil die Equipage des Kaisers durchfahren sollte. Jacob war ein friedfertiger Mann und hielt das Gespann brav an. Die Pferde standen auch eine ganze Weile still und warteten zusammen mit ihrem Kutscher auf die Vorbeifahrt ihrer Hochgnädigsten Majestät. Aber Tiere sind keine braven Untertanen im üblichen Sinne, und Brauereipferde im Gespann gehorchen erst recht eigenen Gesetzen.

      Genau in dem Moment, als, begleitet von mehreren Reitern hoch zu Ross, die kaiserliche Equipage mit der Allergnädigsten Fracht die Kreuzung passieren wollte, gingen die Brauereipferde

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