Die Psychologie des bürgerlichen Individuums. Группа авторов

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Haltung zur Welt erhalten bleibt. Das moralische Individuum will sich in der bürgerlichen Gesellschaft bewähren; es kalkuliert über die Anerkennung ihrer Schranken seinen Erfolg und unterwirft das Resultat seiner Bemühungen wie das der Anstrengungen anderer Leute einer dauernden Deutung. Dabei gilt ihm kein Gegensatz als solcher, vielmehr ergeben sich lauter Unterschiede in bezug auf das individuelle Geschick in der Nutzung der vorhandenen Chancen. Einerseits bestätigt jeder Unterschied im Fortkommen einzelner Figuren die Auffassung, dass „es geht“, also tatsächlich Gelegenheiten geboten werden; andererseits fordert eben dieser Unterschied die moralische Überprüfung heraus, die Frage, ob sich die erfolgreichen Typen auch in derselben Weise betragen wie die minder zu Ansehen gelangten Bürger. Oder ob letztere sich nur den verdienten Lohn für mangelndes Wohlverhalten eingeheimst haben... usw.

      Der Entschluss, sich im eigenen Interesse zu unterwerfen, führt einerseits zur ständigen Widerlegung der berechnenden Dialektik von Anstand und Erfolg; doch sind die Anstrengungen eines solchen Ich überhaupt nicht geeignet, es zu erschüttern. Alle, die es weitergebracht haben als es selbst, sind für ein bürgerliches Individuum der Beleg dafür, dass einiges läuft – und es kann in seiner Überlegenheit gegenüber anderen, die schlechter gefahren sind, einiges an Trost und Bestätigung ausmachen. Im respektvollen bis devoten Verkehr mit den Bessergestellten leugnet das bürgerliche Subjekt die Objektivität der Klassengesellschaft ebenso wie in dem, was es sich gegenüber minder arrivierten „Mitmenschen“ herausnimmt.

      Aufgrund des nur sehr teilweise eintretenden Wohlbefindens schreitet ein anständiger Bürger aber auch zur Kritik des Vergleichs, in dem sich die Individuen seiner Meinung nach auszeichnen. Dazu verhilft ihm die Trennung und Kreuzung der beiden armseligen Maßstäbe, über die er verfügt: Nicht jeder Reiche ist anständig, was aber sowohl Vorwurf als auch Anerkennung der „Cleverness“ bedeuten kann; und mit dem Kompliment, einer sei ein guter Kerl, werden Trottel dingfest gemacht. Als Beglückwünschung der Gebeutelten zu ihrer Moral existiert das Kompliment zynisch – daneben gibt es die Verachtung von „Ellenbogenmenschen“. In tausend Varianten der Anerkennung aller möglichen Unterschiede, die einem nicht passen, zeichnet sich die Unvereinbarkeit der beiden Maßstäbe ab, so dass dem moralischen Individuum einiges zu tun bleibt, die Illusion zu leben, die sein Prinzip ausmacht: Wer die objektiven Schranken seiner Durchsetzung für nicht mehr existent hält, weil er sie zu einer Frage des subjektiven Umgangs mit ihnen erklärt, sie versubjektiviert hat, der hegt die Hoffnung, sie praktisch aus dem Weg räumen zu können. Und dem fällt es auch nicht schwer, nach seinem Geist auch noch seine Moral berechnend einzusetzen – um trotzdem, mitsamt seinem Gehorsam, Materialist zu sein.

      © 2018 Gegenstandpunkt Verlag

      § 3. Heuchelei und Leiden an der Welt

      Da die Welt mit ihren Chancen ziemlich geizt und sich die Selbstkontrolle nicht lohnt, bemüht sich das moralische Ich ständig um die Einlösung seiner Ansprüche; als solche nämlich treten seine zurückgewiesenen Interessen auf. Weil es sich auf die Übereinstimmung des eigenen Materialismus mit den Prinzipien des Erlaubten verpflichtet hat, beruft es sich auf diese Prinzipien, sooft es sich mit seinem Anliegen durchsetzten will. Es bringt jeden Zweck und jede Handlung als Recht des subjektiven Willens zur Darstellung, beschwört ständig, dass seine Taten den von ihm anerkannten Maßstäben gemäß sind – und vertritt seinen individuellen Erfolg als höchst allgemeines Anliegen: Heuchelei, der moralische Materialismus, der andere als Egoisten kritisiert, weil sie „nur“ an sich denken.

      Herrschaft, die tatsächlichen und mit Gewalt auferlegten Beschränkungen des praktischen Lebens, erscheint dem moralischen Subjekt, das auf seinen berechtigten Interessen besteht, weder als Klassengegensatz (= als auf dem Privateigentum beruhende Konkurrenz) noch als Unterwerfung unter das Gewaltmonopol des Staates. Wenn das eigene Interesse rechtens ist und dennoch zu kurz kommt, so ist die bürgerliche Welt eine Anhäufung von Ungerechtigkeiten, sie gehorcht den eigenen höheren Normen nicht, wodurch gerade ein anständiger Mensch „gezwungen“ ist, praktisch immerzu mit Verstößen gegen diese Normen zu kalkulieren, so sehr er theoretisch an ihnen festhält. Dabei kommt er sich so vor, als würde er ihre Gültigkeit retten, wenn er sich der billigen List bedient, welche die Gewohnheit der Heuchelei ausmacht. Er sucht den allgemeinen Respekt vor Recht und Sitte auszunützen, indem er bei jeder Interessenkollision den Grund seines Tuns in die Realisierung von Rechten und Pflichten übersetzt, sich als Wahrer der sittlichen Maßstäbe aufspielt, weil ihm „nur so“ die Welt ein Auskommen gestattet. Und um der Glaubwürdigkeit seines Heuchelns willen führt er seinen Anstand immerzu vor und ist ein Meister des guten Benehmens, das er selbstredend auch von anderen fordert.

      Die moralische Persönlichkeit demonstriert ihr Bedauern, dass man es mit Anstand keineswegs zum garantierten Erfolg bringt, und sie will damit nicht die Kündigung ihres Einverständnisses eingereicht haben. Dass es ein anständiger Mensch zu nichts Gescheitem bringt, ist zwar eine sehr geläufige Floskel; doch bildet sie nicht den Auftakt zur Gegnerschaft gegen die Instanzen des Erlaubten, sondern zur albernen Technik der Selbstbehauptung, die sich materialistisch gibt: „Die Welt will betrogen sein“. Der ganze Betrug besteht allerdings darin, dass der bürgerliche Tugendbold sämtliche Absichten mit dem Schein des Guten versieht: mit dem Hinweis, außer für ihn wären seine Taten vor allem für andere bedeutsam, also ziemlich gut gemeint und somit auf der Linie dessen, was ja wohl jedermann als seine Pflicht ausmachen könne, rechtfertigt er den anvisierten Vorteil, sein Interesse. Die Heuchelei bleibt also beim Anstand als einem Mittel des Erfolgs, wenngleich als einem, das man von der Praxis zu scheiden hat und als Legitimation für den eigenen Materialismus einsetzen muss.

      Gerechtfertigt wird dabei aber auch die Herrschaft, da man ihr bescheinigt, sie gestatte den Individuen, die des Zerwürfnisses beider Maximen innewerden und das rechte Geschick in ihrer Handhabung entwickeln, ein flottes Leben. Dieses Geschick im Umgang mit den anderen trifft jedoch nicht nur auf ebenbürtige Mitmenschen, die einen auf das vorgeschobene Pflicht-Bewusstsein und Gerechtigkeitsgetue festlegen; es versagt ganz offensichtlich seinen Dienst, wo handfestere Mittel fehlen, so dass die von allen Ständen gepflegte List der Heuchelei nur bei denen zieht, wo sie die List des Stärkeren ist. Für ihn erscheint sie nicht einmal als eine besondere Anstrengung, sondern als das öffentlich zur Schau getragene, ganz gewöhnliche Selbstbewusstsein. In Amt und Würden arrivierte Leute tun nie das, was sie gerade anstellen, sondern immer nur ihre Pflicht, und wenn ein solcher Mensch Fortschritte in seiner Karriere zu verzeichnen hat, vermehrt sich nie seine Macht, sondern seine Verantwortung. Die Folgen seiner Entscheidungen und Maßnahmen nimmt ein echter Vorgesetzter und Amtsträger mit einem „leider“ zur Kenntnis, wenn sich andere beklagen – womit er die Notwendigkeit seines Tuns bewiesen haben möchte; bei Kritik verlangt er nach alternativen Möglichkeiten, von denen er weit und breit keine sieht – zumal er gar nichts anderes verfügen dürfe, als das, was er selbst nicht will. Kein Wunder, dass die Modalverben, die die Stellung des Willens zur Tätigkeit des Subjekts ausdrücken, zum bevorzugten Hilfsmittel der Heuchelei im alltäglichen Verkehr geworden sind.

      In der gewohnheitsmäßigen Heuchelei kommt sich aber auch das mindere Subjekt, der „kleine Mann“, ziemlich frei, weil enorm schlau und gerissen vor; obgleich es sich zu Schleimereien gegenüber höhergestellten Leuten und zu allerlei Verstellungskünsten erniedrigt, meint es doch nur seinem Materialismus zu folgen. Darüber vergisst es gerne die Untauglichkeit des

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