Finderglück. Johannes Saltzwedel

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Finderglück - Johannes Saltzwedel

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hat viel zu tun. Vom sensiblen Erkennen wirklich profunden Ausdrucks bis zur periodischen Zielübung im Kalauern, vom Abschalten des Fernsehers bis zur innerlichen Simultanübersetzung politischer Plastikwörter, vom Zögern vor der Tastatur bis zur Begeisterung über den neuesten Wort- oder Lektürefund: Überall heißt es der bequemen Selbstmechanisierung entgehen, den gewohnten Sozialkorsetten widerstreben, vorgefertigten Wortkonstrukten mißtrauen, unentwegt auf das Seltsame der Rede horchen. Werden Leistungen ausgezahlt oder doch besser erbracht? Hat das Huftsteak etwas mit dem Hifthorn zu tun? Wann wurde aus der Kreuzfahrt ins Heilige Land die Kreuzfahrt rund ums Mittelmeer? Darf man Frau Luna für die schlechte Laune verantwortlich machen? Sind Dutzende Beispiele wirksamer als Dutzende von Beispielen? Einiges läßt sich nachschlagen, doch über vieles kann man nur nachdenken. Auf Schritt und Tritt zeigt sich, daß das, was Robert Musil einmal über die Wahrheit geschrieben hat, mehr noch von der Sprache gilt: Sie ist »kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt«, etwas faszinierend Fluktuierendes, Offenes. Niemand kann pausenlos mit dieser Einsicht existieren. Aber jeder Moment, in dem sie wieder neu zum Vorschein kommt, könnte dauerhaftere oder mit dem neuen Modewort: nachhaltigere Wirkung entfalten als viel geschickte Lehrstoffpaukerei.

      Selbst wo sie völlig unbewußt bleibt, kann sich keiner der Tatsache entziehen, daß sprachliche Prägung und sprachliches Vermögen entscheidend sind für Stil und Charakter, ja Kultur und Weltbild. Genaue Sprache gibt weiteren Blick, ein geübtes Mundwerk steigert die Sensibilität und umgekehrt, gute Sprache schärft das Traditionsempfinden, bedachte Rede verdichtet sich zur Individualität. »Die wahre Heimat ist eigentlich die Sprache« schreibt der alte Wilhelm von Humboldt lapidar. »Mit der richtigen Gangart der Sprache … beginnt die Bildung«, ergänzt der junge, tief wissensskeptische Nietzsche. Wohl am einfachsten hat es Kants Gesprächspartner, der sonst so geheimniskrämerische Johann Georg Hamann, formuliert, in einem apokryphen Sokrateswort, das die Kommentatoren bislang nur bei Erasmus entdeckt haben: »Rede, daß ich dich sehe.« Wer sich Maximen wie diese bisweilen in Erinnerung ruft, kann sie als Schnelltest gegen die Floskelflut der verschalteten Welt anwenden.

      Zu solcher Arbeit am Logos können nun die alten Sprachen mehr beitragen als wohl jedes andere Fach – gerade weil keiner mehr mit ihnen anfängt, um später sichere Verträge zu entwerfen oder besser in der Welt voranzukommen (obwohl beides auf lange Sicht ziemlich wahrscheinlich ist), weil sie zum Denken in erzählbaren Zusammenhängen und zum Hinhorchen zwingen, weil sie sich vom geheimnisvollen, anfangs vertrackten grammatischen Baukasten bis zur Gründungsinstanz westlicher Poesie und Weltdeutung auf jeder Verständnisebene neu erschließen. Das britische Empire hat gut gewußt, warum es mit Vorliebe altsprachlich Trainierte als Kolonialoffiziere nach Indien oder Afrika sandte: Das Vermögen, Systematik von Wildwuchs, Dissonanz von Einklang zu unterscheiden, dazu Geschmack und Temperament, erst recht die allmähliche Verfertigung witziger oder entscheidender Gedanken beim Reden, all diese nahezu universalen Maßstabsgrößen vermitteln die alten Sprachen in nuce. Der endlos diskutierte, mitunter bis auf Buchlänge ausgedehnte Katalog von Argumenten, mit denen man Eltern überzeugen will, daß ihre Kinder Latein und Griechisch lernen sollen, erscheint mir letztlich als die Entfaltung dieses einen Gedankens: Wer auf Sprache achten lernt und an ihr Freude hat, wird achtsam für die gewachsene, auf Wachstum angelegte Vielfalt des Lebens, und genau das macht Bildung aus.

      Natürlich sind die »Jünglinge«, um deren geistiges Wohlergehen der Juniorprofessor Nietzsche ehedem so mächtig besorgt war, nicht nur lexikalisch längst eine Antiquität. Von den vielen, die jeden Tag auch für sich selbst am Begriff sinnvollen Übersetzens arbeiten, werden sich die wenigsten dazu durchringen mögen, den adulescens einfach mal wieder Jüngling zu nennen – es tönt eben allzu deftig nach den Zeiten von Rauschebart und Droschkenfahrt. Wer es aber doch probiert, kann plötzlich einen ganzen sozialgeschichtlichen Mikrokosmos darin wiederfinden, die leise Melodie entschwundener Epochen. Mit Nostalgie hat das nichts zu tun. War denn nicht auch im Wilhelminismus der Jüngling eigentlich schon ein verflixt unalltägliches Wesen – und deshalb für den Blick auf Antikes gerade recht? War er nicht vielleicht schon lange zuvor eine künstliche Figur, silhouettenhaftes Formschema entschlossener Idealisierer? Mag er also ruhig in Anführungsstrichen stehenbleiben, der Gast aus dem muttersprachlichen Jenseits, unwillkommen sollte er nicht sein. Denn wer sich bisweilen solche Auftritte leistet, hält ganz nebenbei sein Gespür für Historizität und Tradition geschmeidig. Ich zumindest bin froh, das Wort Jüngling nicht erst bei Schiller, sondern in einer der frühesten, simplen Lektionen des »Ludus Latinus« kennengelernt zu haben, wo übrigens die deutschen Vokabeln listigerweise noch in Fraktur gedruckt waren. Durchblicke wie dieser führen ganz nebenbei vor Augen, daß, mit Egon Friedells Bonmot, das Altertum keineswegs antik zu sein braucht.

      Philologen, speziell Altphilologen, haben die ungeheure Chance, solche Entdeckungen humaner Echoräume spielerisch zu fördern – deshalb ist vorhin der absurde Pensch aufgetreten. Denn Experimentierfreude, Lust auf lautliche Entdeckungen, Spaß an Wortgeschichten, Wortwitz und, jawohl, Redekünste (bei Nietzsche ganz selbstverständlich »Sinn für die Form«) sind nicht nur die besten Helfer dabei, Pensumsdruck zu verscheuchen. Es passiert hier etwas Entscheidendes. Im genießenden Erleben auch der einfachsten sprachlichen Schöpfung fernab aller instrumentellen, taktischen Äußerung tritt die natürliche Poiesis des Wortes hervor, das, was Humboldt gegenüber dem érgon als enérgeia bezeichnet hat, die tätige Offenheit des Ausdrucks selbst. Und es bedarf wohl keiner umständlichen Erklärung, daß diese Offenheit, der im Sprachlichen gründende Möglichkeitsmodus des Denkens, letztlich gleichbedeutend mit dem Humanum an sich ist.

      Wie oft und wie gewunden haben die geisteswissenschaftlichen Fächer in den vergangenen Jahrzehnten ihr Dasein rechtfertigen müssen! Wie lange schon glauben sich Sprachen, vor allem die alten Sprachen – vom kleinen Zwischenhoch gerade in den letzten Jahren sollte man sich nicht täuschen lassen – schulpolitisch in der Defensive! Es muß wohl erst wieder bewußt werden, daß es die Aufgabe von Geisteswissenschaften bis hin zur Philosophie nicht sein kann, überlieferte Fragestellungen zu erledigen, sondern sie offenzuhalten für die sprachliche, also gedankliche Vielfalt. Nicht Problemlöser, sondern Problemversteher und Problemgestalter sind hier gefragt. Ist endlich auch die fatale Ungleichung von Bildung und Wissen überwunden, dann wird das lebendige Interesse an Sprache als der Basis jeder menschlichen Offenheit wie von selbst in sein Recht treten – und damit der Eigenwert der alten Sprachen als Uratmosphäre und Ferment europäischen Geistes.

      Ein 20jähriger Feuerkopf, der zu einem der am weitesten blickenden, sprachbewußtesten Intellektuellen und Poeten seiner Zeit werden sollte, hat 1754 in Zürich geschrieben, Bildung sei die »Kunst, welche junge Leute lehret, das Gute und Böse vermittelst des bloßen Geschmacks richtig zu unterscheiden«. Ästhetisch fundierte Moral, cultus animi, kein Wissen. Daß dazu Vermögen und Anstrengung der Rede nötig waren, folgte für Christoph Martin Wieland, den Pastorensohn, ganz selbstverständlich aus dem Humanum schlechthin; Sprache als Energie des Miteinander und zivilisierendes Substrat der Bildung eigens vorzustellen wäre ihm, auf den der Gedanke der »Weltliteratur« ursprünglich zurückgeht, und den meisten wachen, rhetorisch versierten Zeitgenossen wie ein seltsam tautologisches Bemühen vorgekommen. In einer Zeit jedoch, da die Begeisterung für guten oder wenigstens treffenden Ausdruck so sehr von Schaltkreisen eingeschnürt ist und der flüchtigen Privatexistenz überlassen bleibt, scheint es geboten, einmal die Stimme dafür zu erheben, daß nur ein bis zum Spielerischen freier, mutig gestalterischer Gebrauch der Sprache kulturelle Neugier und somit Bildung überhaupt gedeihen läßt. Wenn sich die alten Sprachen und ihre zum Glück zahlreichen Fürsprecher dieser Zusammenhänge bewußt bleiben, dann wird die Zukunft ihnen offenstehen.

      Notizen zur digitalen Vielfalt (1999)

      Die Probleme lösen sich

      nicht im Begriff,

      nur in der Gestalt.

       Hugo von Hofmannsthal

      In

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