Finderglück. Johannes Saltzwedel
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Aber das datentechnisch fundierte Denkmuster beliebig umschaltbarer Zustandsbilder hält nicht bloß einige Spielsüchtige und Theoretiker gebannt. In nahezu allen aktuellen Erkenntnisfragen setzt die öffentliche Argumentation »Grundwerte« als diskrete Größen voraus, die, Parametern vergleichbar, primär wertfrei statuiert und umgeordnet werden können. Ob es um die Ozonschicht geht oder um den Arbeitsmarkt: Alles hängt von den Prämissen ab, und die scheinen dem geläufigen Dezisionsdenken zunächst und im Prinzip frei wählbar. Auch daß jeder Eingriff das unüberschaubare Ganze betreffen muß, daß Kalkulierbarkeit folglich nie mehr als eine schöne Hoffnung bleiben kann, gilt unter den Klein-Demiurgen aller Couleur längst als technologische Binsenweisheit. Wirkung bleibt mittelbar, darum kommt es so sehr auf die Wahl der Grundelemente an – eine Spätversion des axiomatischen Optimismus vom Anfang des Jahrhunderts, die vergessen läßt, daß ihre unbekümmerte Resignation aufs Vielfältige ein Schema digitaler, als Nebeneinander imaginierter Wertigkeiten geradezu voraussetzt.
So möchten beispielsweise ungezählte Schreibende und Redende durch politisch korrekten Sprachgebrauch dazu beitragen, angebliche Diskriminierungsnachteile auszugleichen. Ob die bewußte Entscheidung fürs schriftliche und mündliche Tabu tatsächlich im angestrebten Sinne wirkt, würden zwar höchstens einige Aktivisten beschwören; alle übrigen hoffen mit systemischer Ungewißheitsmarge. Doch selbst ihren Gegnern wird kaum je bewußt, daß schon die Annahme, sich im Ausdruck frei entscheiden zu können, auf der Verengung kultureller Zeichenhaftigkeit zu diskreten Größen beruht. Wer aus unbewußter Überzeugung die Geschlechterpolarität als feste Werte wie Null und Eins, oder weniger freudianisch als A und B, beschreibt, benötigt etwa für die darin zunächst nicht vorgesehenen Übergänge plötzlich eine komplizierte Mehrwertigkeit, die auszutüfteln so viel Zeit kostet, daß das Ergebnis mit entsprechend scholastischem Stolz verkündet wird. Das Weltknäuel aus Hautfarben und Herkunftsregionen fordert, sobald unser Gleichheitsideal ihm präzise Individualwerte abverlangt, erst recht einen sprachtheoretischen Vorbehalt, der oberflächlich gesehen zu universaler Einfühlung, tatsächlich aber zu sprachlichen Billiglösungen führt – schon deswegen, weil für wirklich humane Praxis, für eine Haltung der Wesentlichkeit schlicht die Zeit fehlt. Paradoxerweise schlägt so das unabschließbare, eben historisch offene Bemühen, Individuelles zu respektieren, in Pauschalisierung um, und es beginnt, fatal an die Hoffnung zu erinnern, daß zur Aufklärung, ganz gleich was man so nennt, bloß der rechte Lichtschalter gefunden werden müsse – einer dann natürlich dauerhaft, also endzeitlich, undialektisch, ja unhistorisch gedachten Aufklärung.
Selbst die so kraftvoll wiedererwachte Sehnsucht nach Moralstandards ist anfällig für derlei digitale Schemata. Kataloge von Primär- und Sekundärtugenden, ob an Umfragezahlen erläutert oder vom Katheder deduziert, wirken schon wegen der Einteilung menschlichen Verhaltens nach diskreten Kategorien wie unverbindliche Augenblicksmodelle. Ihre Wirksamkeit kommt der Art nahe, wie das Stadtplanungsspiel »SimCity« soziale Standards repräsentiert: In diesem schon klassischen Computerspiel, zumindest seinen frühen Versionen, bemißt sich Wohlergehen an Produktionsziffern, Verkehrsströmen und Siedlungsvortrieb, die öffentliche Moral ist an der Dichte der Polizeiwachen abzulesen, und der allmächtige virtuelle Bürgermeister – de facto der Spieler am Bildschirm – muß mit Unruhen höchstens dann rechnen, wenn er die Steuern erhöht. Und steckt nicht auch im vieldiskutierten Begriff »Multikulturalismus« schon die Annahme, daß kulturelle Eigenarten eine in sich wertentrückte Grundmenge gleichrangiger Optionen bilden? Läßt nicht der vornehm desinteressierte Ton all die vielen historisch erstrittenen und erlittenen Konturen von Identität so abgrenzbar erscheinen wie Programmkanäle im Kabelfernsehen und ihre Pluralität so erhaltenswert wie die bestialische Artenfülle im Zoo? Drängen wohlmeinende Toleranzformeln à la »Weltethos« das Charakteristische der angeblichen Kulturen nicht derart zusammen, daß vom Schicksal des Werdens eine Kollektion von Vorurteilsmasken übrigbleibt, nach deren befremdender Besichtigung man höchst indigniert ist, daran erinnert zu werden, daß auch die eigene schwerlich abnehmbar oder gar auszuwechseln wäre?
Wie in diesen Fällen die Menge des scheinbar Verfügbaren, Fertigen, Optionalen unbemerkt zu schlechter Pluralität gemindert wird, so neigt unsere digital brüchig gewordene Wahrnehmung zur Radikalform jener »Blasiertheit«, die Georg Simmel am überforderten Metropolenbewohner gewahrte. Abgebrüht davon, daß niemand mehr ihm garantieren kann, ob die neue Version seines PC-Betriebssystems »stabil« läuft oder nicht, überrascht es den Manipulateur von Datenzuständen kaum noch, daß soziale und geistige Betriebssysteme zuweilen ebenfalls abstürzen. Unwillkürlich nimmt er an, daß auch jenseits der Festplatten für den nötigen Ersatz an Lebens- und Gedankensoftware gesorgt sein dürfte: Die Experten werden schon ein neues Modell liefern, auch wenn ihr nächstes Produkt genauso eine mit Fehlern durchsetzte Betaversion sein mag. Wer dennoch, statt sich cool dieser entbürgerlichenden Vergleichgültigung zu fügen, Wahrheit im Singular verlangt, ist wirklich selber schuld – vielleicht ohnehin jeder, der von irgendeinem der vielen Zustände auf dem geistigen Bildschirm mehr verlangt als ein meßbares Quantum Hirnstimulation. Charakteristischerweise sind Aufsatzsammlungen, in denen Widersprüchliches nach Proporzregeln nebeneinander stehenbleibt, in fast allen Geisteswissenschaften zur beliebtesten, da raschesten Publikationsart avanciert: Wähle jeder, aus welchen Gründen und Traditionen auch immer, die ihm gerade genehme Les- und Denkart, ganz wie in seiner restlichen Wahrnehmungswelt üblich; übermorgen werden neue Bilder die heutigen ohnehin vollständig überschreiben. In den Künsten ist diese Verabschiedung des Unbedingten zugunsten der Resignation auf ein virtuelles System schon alltäglich. Kaum absehbar, was solche Haltung aus dem Begriff der Geschichte insgesamt macht.
Am nachhaltigsten aber wirkt sich das digitale Flimmern, der Abschied vom Sequentiellen, auf den Begriff des Wissens selbst aus. Wissen steht der diskret meßbaren Akkumulationsgröße Information so nahe, daß schon aus praktischen – von physikalischen bis administrativen – Gründen seine Verwaltung und Verfügbarkeit wichtiger werden als jede inhaltliche Klärung. Nicht was und wozu, sondern wieviel und wie rasch man weiß, gilt als Stärke, ja noch die Geschwindigkeiten der Informationsströme oder die Angabe, in wie wenigen Jahren sich »das Wissen« der Menschheit schon wieder verdoppelt habe, signalisieren beruhigenden Reichtum. In vielen, auch der Wortwahl nach repräsentativen Studien ist vom kulturellen Kapital des Wissens die Rede, vom Aufbruch in die Wissensgesellschaft und davon, daß Wissen als Problemlösungsmittel füglich »vernetzt« werden müsse wie die Computer. Solch von Experten verschaltetes Wissen, dessen einheitliche Intensität und freie Abrufbarkeit seine Hauptvorzüge ausmachen, ein positivistisch egalitäres Wissen im krudesten Sinne der »natural sciences«, ist von Erkenntnis längst auch seiner Anmutung nach so verschieden, daß der gelehrten Betrachtung allenfalls seine Strukturen (mit Foucault gesprochen) und Stadien – Entwicklungsphasen wäre schon zuviel gesagt – einer Untersuchung würdig erscheinen. Konnte Robert Musils General Stumm von Bordwehr noch über dem endlosen Prospekt geistiger Gehalte und Hierarchien in der Staatsbibliothek tragikomisch resignieren, so hinterläßt die endlose Parataxe des Wissens von heute nur mehr vagen Appetit auf ein ganz anderes. Das leichthin verkündete Wort von der Entwertung des Wissens gewinnt Profil, sobald man sich klarmacht, mit welcher Mühe etwa Philosophen gegenwärtig eine Ahnung davon zurückzugewinnen trachten, was ein Sonnenuntergang ist. Noch das am wenigsten digital erfaßbare Grundverhalten des Menschen, seine urtümlichste Traditionalität, das Erzählen, gerinnt durch die postmoderne Rede von sinnstiftenden »großen Erzählungen« zur Sammlung austauschbarer, verwechselbarer, wiewohl angeblich magisch bindekräftiger Bilder.
All diese Aspekte erscheinen gebündelt in der ästhetischen Form des Internets. Seine jederzeit abrufbaren Datenzustände tragen Zeit-, also Verfallsstempel. Seine kaum begrenzten Wachstumsreserven zwingen dazu, möglichst exotische, unverwechselbare Namen für Personen und Institutionen zu verwenden, damit sie im ungeheuren Zeichenindex der Suchmaschinen nicht begraben werden. Häufigste Erscheinungsarten historischer Kontinuität im Internet sind Katalog und Update, also pures Nebeneinander und totaler Ersatz – jene beiden Formen von Vielfalt, die am wenigsten Sequentialisierungsmühe erfordern. »achtung: was besteht, ist veraltet«, schrieb der schlitzohrige Oswald Wiener 1969 – sein subversiv gemeinter Satz, hier ist er Ereignis, ja Prinzip geworden. Kaum