Maschen der Kunst. Christian Janecke
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In der latent ordinären Begeisterung einer großspurig gewordenen Kunstwelt für das Unverhoffte, das sich eines Ortes oder einer Person oder einer Gruppe bemächtigt hat, in der Bewunderung der asozialen Geste des Überfalls durch Kunst (»Wow!«) steckt der Glaube, diejenigen, die durch Kunst nicht mehr zu erreichen sind, durch Bekunstung wenigstens noch ereilen zu können.
Neben der markigen gibt es übrigens auch eine leisetreterische Variante der Bekunstung. Das wäre jene Art künstlerischer Geste, die nach dem Vorbild neuerer Werbung viral oder parasitär über den öffentlichen Raum, über das Bewusstsein der vielen Einzelnen sich auszubreiten gedenkt. Die Betrachter bzw. Kunstkonsumenten werden dabei als unfreiwillige Erfüllungsgehilfen gedacht, etwa indem sie unwissentlich einen bestimmten Duft oder einen Aufkleber weitertragen. Diese Variante der Bekunstung versucht den vollmundigen Messianismus der frühen Avantgarden durch Rollenumverteilung geläutert fortzusetzen. Das Publikum ist nicht länger nur Empfänger der frohen Botschaft, sondern unfreiwillig deren Agent – unübersehbar dabei die Tendenz zur → Partizipationsfolklore.
Belanglosigkeitsausdifferenzierung
Normalerweise stellen wir uns die Reihenfolge so vor: Weil etwas interessant, wichtig oder schön ist, wird es nicht nur Gegenstand der Kunst, sondern es kann in ausgewählten, die Besonderheit dieses Gegenstandes unterstreichenden Fällen auch zu regelrechter Serien- und Variationsbildung, zu Ausschmückung und Ausdifferenzierung kommen. Die Geschichte der Kunst liefert dafür zahllose Beispiele, etwa im Hinblick auf die Verbreitung und Abwandlung beliebter Motive und gelungener Kompositionen durch Stiche.
In der jüngeren Kunst verläuft es mitunter jedoch genau umgekehrt: Bloß weil eine Sache, und sei sie auch noch so belanglos, nicht nur einmal, sondern sogleich vielfach in Variation dargeboten wird, gewinnt und bindet sie überhaupt erst Aufmerksamkeit, die ihr andernfalls nie zuteilgeworden wäre. Dabei ist wohlgemerkt weder die Rede von identischer Reproduktion (Warhol-Effekt) noch von jenem Omnipräsenzzwang, der heute zum Künstlertum nicht anders als zu Produkten der Wirtschaft gehört und demzufolge die einem Künstler gezollte Anerkennung wesentlich davon mitbestimmt wird, wie häufig er als Name oder Marke auf den Plan tritt.
Um den hier greifenden Mechanismus zu erörtern, stellen wir uns zunächst den Blick in die geöffnete Garage irgendeiner Wohngegend vor – ein selbst für unverbesserliche Verfechter optischer Selbstkasteiung wohl nicht sonderlich attraktives Sujet, das meines Wissens bislang noch nicht sein Debüt in der Fotokunst erlebt hat. Denken wir uns jetzt aber diesen Einzelfall als Teil einer ganzen Serie von Ausgaben dieses Motivs, so stehen die Chancen auf Akzeptanz im heutigen Kunstkontext sogleich um einiges besser. Warum ist das so? Schon bevor wir uns auf wirkliche Fotosafari machen, fallen uns herrliche Beispiele ein von entsprechenden Garagen, die wohl vor Jahrzehnten mal so klein wie möglich und so groß wie nötig errichtet worden waren. Und die Hausherren, die diese Garagen einst erbaut hatten, konnten später entdecken, dass sich neben dem Auto auch noch allerhand andere Dinge darin würden unterbringen lassen. Und zwar etliche, nach Möglichkeit nicht allzu sperrige Güter, denen ein unbeheizter, von dicken Spinnen bewohnter, nach Benzin müffelnder Raum nichts würde anhaben können. Und irgendwann war dieser Kompromiss zu einer Inneneinrichtungsform sui generis geworden, weil die schlanken Autos, für die man solche Garagen ursprünglich gebaut hatte, nach und nach ersetzt wurden durch dickere geländegängige Fahrzeuge, die deshalb auch meistens draußen auf der Straße parken. Jedenfalls schweift nun unser Auge über all die halbprofessionellen Hilfskonstruktionen, Aufhängungen, Schichtungen usw., die recht auskunftsfreudig sind in Bezug auf die Bewohner des dazugehörigen Hauses, unter Umständen sogar im Hinblick auf die geringe bis große Nähe oder gar den baulichen Übergang zu diesem Hause. Die Art der Unterbringung dort befindlicher Geräte, ihres Verstelltseins oder ihrer Erreichbarkeit zeugt von ihrem Wert, kündet davon, wie lieb oder unwichtig sie ihren Besitzern im Laufe der Zeit wurden. Unschwer ließen sich hier Debatten über Architektur, über eine Soziologie des mittelständischen Wohnens anschließen, über Garagen als Refugien einer bürgerlicherseits sonst vermaledeiten Mentalität der Bricollage, über Hinterbühnen des Lebens, die nun auf einmal in helles Licht getaucht sind, usw. usf. – man ahnt schon, was Kunstkritiker oder Katalogautoren alles aufbieten könnten, um die entsprechende Serie eines Fotokünstlers, der, wie man so sagt, ›einfach nur draufhielt‹, über den grünen Klee zu loben. Doch zu behaupten, es sei die Leistung dieses Künstlers, die oben getätigten Überlegungen angestoßen zu haben, wäre ungefähr so vermessen, als würde man jemandem, der sich kriminell mit einer Reihe jeweils einander ähnlicher Einbrüche hervortat, nun kriminologische Verdienste bescheinigen. Denn tatsächlich hatte uns das Thema ›geöffnete Garagen in Vorstadtsiedlungen‹ eingangs nicht tangiert. Es wurde daher also auch nicht breitgetreten bzw. diversifiziert, weil es so interessant war, sondern umgekehrt: Es wurde interessant, weil es breitgetreten bzw. diversifiziert wurde!
Zynische Apologeten könnten vorbringen, die Künstler wiederholten damit doch nur intragenerativ, was die Evolution intergenerativ vorgemacht habe: Dort seien der emergenten Phänomene und der Variationen einzelner Entwicklungen zuhauf; und Künstler, die sich als Belanglosigkeitsausdifferenzierer betätigten, stünden sozusagen im stillen Einklang mit der Schöpfung (was freilich bereits auf evolutionstheoretischem Gebiet nicht stichhaltig wäre, weil es die Selektion unterschlüge).
Doch wie kommt die Wirksamkeit des Prinzips Belanglosigkeitsausdifferenzierung zustande? Man könnte zunächst an sogenannte noncontingent reward experiments denken, bei denen zum Beispiel im Zuge einer Zusammenstellung völlig willkürlicher Zahlenpaare der die Passung beurteilenden Versuchsperson eine steigende Trefferquote vorgegaukelt wird, woraufhin es zur Hypothesenbildung durch die Versuchsperson und zur Aufrechterhaltung entsprechender Hypothesen sogar noch nach Aufklärung über den Versuchsaufbau kommt. Solche Experimente veranschaulichen unsere Bereitschaft, auch Sinnloses auf latenten Sinn hin abzusuchen und bereits dürftigsten Anhaltspunkten für etwaige Zusammenhänge großes Gewicht beizumessen. So gesehen ist es fast sicher, dass geistig bewegliche Betrachter angesichts einer Zusammenstellung ähnlicher und zugleich unkonventioneller Motivgruppen wacker zur Thesenbildung schreiten werden.
Eine pfiffige Antwort auf die Frage nach der Wirksamkeit des Prinzips Belanglosigkeitsausdifferenzierung könnte darauf hinauslaufen, es profitiere davon, dass es immer schon, also auch in außerkünstlerischen