Cultural Studies - Ein politisches Theorieprojekt. Stuart Hall
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KHC: Nach zwei Jahren Redaktionsarbeit, 1961 warst du völlig ausgebrannt. Was hast du danach gemacht?
SH: Ich verließ die Review, um Medien, Film und populare Kultur am Chelsea College, an der University of London zu lehren. Ich unterrichtete, was man damals »complementary studies« nannte und was wir heute Cultural Studies nennen würden. Ich wurde herangeholt von einer Gruppe von Leuten, die dort unterrichtete, der Neuen Linken sehr nahe stand und an der Arbeit von Hoggart und Williams interessiert war, aber auch an den Filmstudien, die Paddy Whannel und ich am BFI (British Film Institute) durchführten. Man stellte mich ein, um Film und Massenmedien zu unterrichten. Ich glaube nicht, dass es irgendwo sonst damals eine Stelle für Film und Massenmedien gab. Ich hatte mit Paddy Whannel am Education Department des BFI über Film und Fernsehen gearbeitet. Es gab auch Verbindungen zum »Free Cinema«, der britischen Dokumentarfilmbewegung, die mit Lindsay Anderson und anderen assoziiert war, dann Screen, die Gesellschaft für Erziehung in Film und Fernsehen. Zwischen 1962 und 1964, machten Paddy und ich die Arbeit, die schließlich zu dem Buch The popular Art9 führte.
KHC: Vorher wolltest du deine Dissertation über Henry James schreiben. Hast du das wegen New Left Review aufgegeben?
SH: Ich gab es buchstäblich wegen 1956 auf. Ich gab es auf, weil ich meine Forschungszeit zunehmend dazu benutzte, über Kultur zu lesen und diesem Interesse zu folgen. Ich verbrachte ziemlich viel Zeit in der Rhodes House Bücherei beim Lesen anthropologischer Literatur, ich saugte die Debatte über afrikanische »Überlebende« in der Karibik und in der Kultur der Neuen Welt auf. Meine Dissertation über Henry James war eigentlich von diesen Interessen nicht so weit entfernt. Sie hatte das Thema »Amerika« vs. »Europa« in den Romanen von James. Es ging um den moralisch-kulturellem Gegensatz zwischen Amerika und Europa, eines der großen kulturübergreifenden Themen von James. An James interessierte mich auch die Destabilisierung des Ich-Erzählers. Es war der letzte Augenblick im modernistischen westlichen Roman vor Joyce. Joyce repräsentierte die Auflösung des Ich-Erzählers, James stand dicht am Rand dieser Auflösung. Seine Sprache überrennt fast die Fähigkeit des Ich-Erzählers. Ich war also an zwei Fragen interessiert, die wichtige Implikationen für Cultural Studies haben. Andererseits hatte ich das Gefühl, dass es für mich nicht richtig war, kulturelle Fragen weiterhin »rein« literarisch zu denken.
Während ich in Chelsea unterrichtete, hielt ich die Verbindung mit Williams und Hoggart aufrecht. Ich organisierte die erste Gelegenheit, bei der die beiden sich trafen. Das war ein Gespräch, das in Universities and Left Review nachgedruckt wurde. Sie diskutierten Culture and Society und The Uses of Literacy. Hoggart entschied sich damals, Leicester zu verlassen und als Professor für Anglistik nach Birmingham zu gehen. Er wollte weiter in dem Bereich forschen, der in Uses of Literacy behandelt wurde, statt die üblichen Literaturstudien zu machen. Und die Universität von Birmingham sagte, »Das können Sie tun, aber wir haben kein Geld, um sie zu unterstützen.« Aber Hoggart hatte in dem Prozess um Lady Chatterley’s Lover für Penguin Books ausgesagt und so ging er zum Leiter des Verlages, Sir Allen Lane, und überredete ihn, uns etwas Geld zu geben, um ein Forschungsinstitut zu gründen. Allen Lane gab Hoggart ein paar tausend Pfund jährlich, die Penguin von der Steuer absetzen konnte, weil es eine Erziehungsaufgabe war. Hoggart beschloss, mit diesem Geld jemanden einzustellen, der diese Seite der Arbeit betreuen würde. Er blieb Anglistikprofessor und lud mich nach Birmingham ein, um diese Stelle zu übernehmen. Hoggart hatte Universities and Left Review und New Left Review und The Popular Arts gelesen und er dachte, ich wäre mit meiner Kombination von Interessen an Fernsehen, Film und popularer Literatur, meiner Kenntnis der Leavis-Debatte und meinem Interesse an Kulturpolitik eine gute Person für diese Arbeit. So ging ich 1964 nach Birmingham und heiratete Catherine, die im gleichen Jahr von Sussex nach Birmingham zog.
Die Zeit in Birmingham
KHC: Einerseits gibt es den verbreiteten Eindruck, das Centre for Contemporary Culture Studies (CCCS) sei zu Beginn nur an der Klassenfrage interessiert gewesen. Andererseits gibt es diese Geschichte, das erste kollektive Projekt des Zentrums sei eine Analyse von Frauenzeitschriften gewesen. Dieses Manuskript sei aber im Produktionsprozess verloren gegangen und deshalb nie veröffentlicht worden. Stimmt das?10
SH: Oh ja, das stimmt absolut. Beide Geschichten sind wahr. Zunächst waren wir in den Cultural Studies an Klassenfragen interessiert. Am Anfang im Sinne von Hoggart und Williams, nicht im Sinne des klassischen Marxismus. Einige von uns waren in einem kritischen Verhältnis zu marxistischen Traditionen geformt worden. Wir waren an der Klassenfrage interessiert, aber es war nie die einzige Frage, die uns interessierte: zum Beispiel gab es wichtige Arbeiten über Subkulturen in den frühen Phasen des Zentrums. Wenn du den theoretischen Ansatz von Cultural Studies meinst, so sahen wir uns praktisch überall um, um einen reduktionistischen Marxismus zu vermeiden. Wir lasen Weber, wir lasen deutschen Idealismus, wir lasen Benjamin, Lukács, um den unserer Meinung nach unbrauchbaren Klassenreduktionismus zu korrigieren, der den klassischen Marxismus deformiert und ihn gehindert hatte, sich ernsthaft mit kulturellen Fragen auseinander zu setzen. Wir lasen ethnomethodologische und Konversationsanalyse, hegelschen Idealismus, ikonographische Studien und Kunstgeschichte, Mannheim; wir lasen sie alle, um zu versuchen, einige alternative soziologische Paradigmen zu finden (Alternativen zu Funktionalismus und Positivismus), die nicht reduktionistisch waren. Aber sowohl was die Empirie als auch was die Theorie angeht ist die Vorstellung, dass das CCCS ursprünglich nur an Klassen interessiert war, falsch. Wir wandten uns der Frage des Feminismus (des Prä-Feminismus eigentlich) und der Geschlechterfrage zu. Wir untersuchten Romane in Frauenzeitschriften. Wir verbrachten Ewigkeiten mit einer Geschichte, »Cure for Marriage« und ja, alle diese Texte, die für ein Buch überarbeitet werden sollten, verschwanden, so dass es über diese Phase der Geschichte der Cultural Studies keine Dokumente gibt. Das war die »prä-feministische« Phase des Zentrums.
Eines Tages beschlossen Michael Green und ich einige Feministinnen, die außerhalb des Zentrums arbeiteten, einzuladen ins Zentrum zu kommen, um diese Frage dort einzubringen. Die »traditionelle« Geschichte, dass der Feminismus ursprünglich im inneren des Zentrums ausbrach, stimmt also nicht ganz. Wir waren bemüht, diese Verbindung herzustellen, teilweise weil wir beide damals mit Feministinnen lebten. Wir arbeiteten innerhalb der Cultural Studies, aber wir waren mit dem Feminismus im Gespräch. Die Leute innerhalb der Cultural Studies waren damals aufgeschlossen für Geschlechterfragen, aber nicht so sehr für feministische Politik. Was natürlich stimmt, ist, dass wir als klassische »neue Männer« überrascht wurden durch das, was wir – patriarchalisch – zu initiieren versucht hatten, als der Feminismus sich dann tatsächlich autonom zu Wort meldete. Solche Dinge sind einfach unvorhersehbar. Der Feminismus brach schließlich auf seine, explosive Weise, ins Zentrum ein. Aber es war nicht das erste Mal, das Cultural Studies über feministische Politik nachgedacht hatte oder sich dessen bewusst geworden war.
KHC: In den späten Siebzigern hast du das CCCS verlassen. Warum?
SH: Ich war seit 1964 am Zentrum gewesen und ich verließ es 1979. Das war eine lange Zeit. Ich machte mir Gedanken über die »Nachfolge«. Jemand aus der nächsten Generation musste nachfolgen. Der Mantel muss weitergegeben werden oder das ganze Unternehmen stirbt mit einem. Ich wusste das, denn als Hoggart schließlich beschloss zu gehen, wurde ich vertretender Direktor. Er ging 1968 zur UNESCO, ich vertrat ihn vier Jahre lang. Als er 1972 beschloss, nicht zurückzukommen, gab es einen massiven Versuch seitens der Universität das Zentrum zu schließen, und wir mussten kämpfen, um es zu halten. Es war mir klar, dass sie es nicht schließen würden, solange ich dort war. Die Universität hatte sich damals bei einer ganzen Reihe von Akademikern Rat geholt und alle sagten: »Stuart Hall wird die Tradition von Hoggart weiterführen, schließt das Zentrum nicht.« Aber ich wusste, sobald ich ginge,