Er, Sie und Es. Marge Piercy

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Er, Sie und Es - Marge Piercy

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war in den Glop entschwunden. Vielleicht wurde sie als Tagelöhnerin täglich durch das Tunnelsystem in die Enklave hinein- und aus ihr hinausgeschleust, verdingte sich als Wäscherin oder Köchin oder tat Wartungsarbeiten, die nicht von Robotern verrichtet wurden, doch Shira würde sie nie mehr zu Gesicht bekommen. Rosario war aus der sicheren Festung ausgestoßen worden in den überbevölkerten, brutalen, gärenden Pferch des halb verhungerten Glop, wo neun Zehntel aller Menschen von Norika hausten. Sollte sie noch am Leben sein, Shira würde es nie erfahren. Glop, das klang nach Auswurf und war auch so gemeint: ein Slangwort für die Megalopolis, die sich vom einstigen Boston südwärts erstreckte bis zu dem, was einmal Atlanta gewesen war, sowie für all die ähnlichen Gebiete auf dem Kontinent, auf der Welt.

      Sobald Shira ihre Zweizimmerwohnung erreichte, das Höchste, was ihrem Dienstgrad in den sogenannten Silos für niederrangige Technos zustand, fragte sie die Wohnung nach Mitteilungen. Jede Wohneinheit in der Konzern-Enklave war computergesteuert. Es war kein so anspruchsvolles System wie das, mit dem sie aufgewachsen war und das Malkah programmiert hatte, aber zur Nachrichtenübermittlung reichte es. Sie erfuhr, dass Malkah vor fünfzig Minuten angerufen hatte. Shira kontaktierte zuerst ihren Anwalt und dann Malkah. Bei Gesprächen machte sie sich nicht die Mühe, sich einzustöpseln – das tat niemand. Sie sprach ihre Anweisungen einfach aus. Malkahs rundes, ein wenig verhutzeltes Gesicht erschien, ihr Haar, ebenso schwarz wie Shiras, war in Zöpfen um ihren Kopf gewunden. »Shira, du siehst durcheinander aus.« Malkah hatte eine tiefe, volltönende Stimme. Obwohl sie Shiras Großmutter war, hatte sie sie großgezogen. Das war in ihrer Familie Brauch, bat Shipman, die Dynastie der Töchter, bis Shira das Schema durchbrochen hatte.

      »Isst du gerade?«, fragte Shira höflich, denn es war eine Stunde später in der freien Stadt Tikva am Atlantik, wo Malkah lebte und wo Shira aufgewachsen war.

      »Was fehlt dir?« Malkah kam immer sofort zur Sache.

      »Y-S hat Josh das Sorgerecht erteilt.«

      »Diese Schweinepriester«, sagte Malkah. »Diese Giftrülpser. Ich hab dir ja gesagt, heirate ihn nicht. Du bist in unserer Familie seit vier Generationen die Erste, die heiratet. Eine schlechte Idee.«

      »Ist ja gut, ich dachte, Josh braucht die Geborgenheit.«

      »Und konntest du ihm Geborgenheit geben? Na egal. Komm nach Hause.«

      »Ich kann mir nicht einfach freinehmen. Besonders jetzt. Ich lege Einspruch ein. Ich muss Ari zurückbekommen. Ich muss.«

      »Was will Y-S?«

      »Von mir? Nichts. Sie wissen kaum, dass ich existiere.«

      »Als du dein Studium in Edinburgh abgeschlossen hast, warben sechs Multis um dich. Und Y-S lässt dich verschimmeln. Das stinkt.«

      »Ich denke, ich leiste gute Arbeit, aber nichts passiert. Niemand hier hält große Stücke auf mich.«

      Malkah schnaufte. »Komm nach Hause. Ich kann dich brauchen. Ich arbeite nicht mehr mit Avram. Ich entwerfe jetzt ganztags.«

      »Ich fand das eine sonderbare Partnerschaft.«

      »Was er macht, ist absolut faszinierend. Aber egal. Er ist wütend auf mich. Er ist ein sturer, arroganter alter Kacker, aber auf seinem Gebiet ist er zweifelsohne ein Genie.«

      »Kybernetik hat mich nie besonders interessiert … Malkah, ich ertrage es nicht, Ari zu verlieren. Er fehlt mir schon jetzt.« Shira liefen Tränen übers Gesicht.

      »Du hättest nie für diese Manipulanten mit ihren Machenschaften arbeiten dürfen, Shira. Du hast hier einen Platz. Du bist davongelaufen. Dabei ist Gadi gar nicht hier. Der ist oben in Vancouver und entwirft diese kunstvollen Scheinwelten, in denen die Leute Leben spielen, statt sich Gedanken über die Welt zu machen, die wir alle am Hals haben.«

      »Ich habe viele Fehler gemacht«, sagte Shira. »Aber Ari gehört nicht dazu. Er ist kostbar, Malkah, er ist für mich das Leben selbst. Ich muss ihn zurückhaben. Er trägt mein Herz in sich.«

      »Tochter meiner Seele, ich wünsche dir Kraft. Aber ein Multi hat immer seine Gründe. Du wirst vielleicht eine Weile brauchen, ehe du sie durchschaust, und wenn du es tust, wird dir das unter Umständen nicht helfen, deinen Sohn zurückzubekommen.«

      »Tja, bete für mich.«

      »Du weißt, ich glaube nicht an persönliche Fürbitten. Ich bete immer nur um Erkenntnis.«

      Shira hatte vergessen, sich eine Mahlzeit mitzubringen. Sie aß Cracker und Datteln. Dann setzte sie sich wieder an ihr Terminal und stöpselte sich ein, indem sie die Klinke vom Terminal in die kleine Silberbuchse an ihrer Schläfe steckte, direkt unter der Haarlocke, die immer dorthin fiel. Rosario hatte keine Buchse gehabt; hier war das ein Klassenunterschied, doch in Tikva erhielt jedes Kind die Möglichkeit des direkten Zugangs und lernte, sich in das weltweite Netz zu projizieren und in die lokale Operationsbasis. Sie glitt rasch aus ihrer privaten Basis in die Y-S-Basis. Sie wurde vom Konzernlogo empfangen, weiße und schwarze Doppelblitze vor Himmelblau. Die Y-S-Bildwelt beim Betreten des Stützpunktes war die von Straßenschildern. Sie stand auf einer Kreuzung und hatte sieben Abzweigungen vor sich. Büchereizugang. Sie ging die enge weiße Straße entlang. Natürlich saß sie auf ihrem Stuhl, aber die Projektion wirkte vollkommen realistisch. Man konnte in der Projektion sterben, wenn man von Räubern überfallen wurde, Informationspiraten, die in der einen Basis plünderten und die Beute an eine andere verhökerten.

      Ein Gebäude stand vor ihr, weißer Marmor mit Säulengang. Die Bibliothek. Schnell stieg sie die flachen Stufen empor. Sie hielt Ausschau nach der juristischen Abteilung. Sie hatte vor, sich die geltende Y-S-Gesetzgebung über Sorgerecht anzueignen. Deshalb hatte sie nicht einfach nur Text- oder Tonausgabe gewählt. Bei voll projiziertem Zugang, wenn sie in eine Basis eingestöpselt war, lernte es sich wesentlich schneller als in Echtzeit. Sie wollte sie mit ihren eigenen Waffen schlagen. Sie würde ihren Sohn zurückerobern.

      Am nächsten Morgen stand sie vor der Tagesstätte. Josh kam mit Ari im Schlepptau. Sie stürzte auf Ari zu und kniete sich vor ihn. »Ich will dir nur sagen, dass ich dich heute abhole. Heute Abend bist du wieder bei mir.«

      Ari hatte den Daumen im Mund und sah aus, als ob er geweint hatte. Sein Teddybär-T-Shirt war verkehrt herum. Seine Augen waren verklebt.

      Josh sagte, und seine Stimme surrte wie eine Hornisse: »Ich werde Beschwerde einlegen.«

      Und wirklich erschien auf ihrem Bildschirm um dreizehn Uhr eine Sicherheitsnachricht: ›Shira Shipman wird hiermit jeglicher Kontakt mit dem minderjährigen, dem Sorgerecht seines Vaters Joshua Rogovin unterstellten Ari Rogovin untersagt außer an den vorgeschriebenen Tagen innerhalb der festgesetzten Besuchszeiten. Jeder weitere Verstoß gegen diese Verfügung bewirkt den Widerruf besagter Rechte.‹

      Shira schloss sich in eine Abfallbeseitigungszelle ein, bevor sie weinte.

      2

Shira

      Die Farbe alten Blutes

      Shira war vor Malcolm auf. Es war die zweite Nacht, die sie miteinander verbracht hatten, ihr Versuch, etwas Distanz zwischen sich und ihren Exmann zu bringen. Jedes Mal, wenn sie in den zwei Monaten seit dem Urteil Ari abgeholt oder zurückgebracht hatte, war sie mit Josh aneinandergeraten. Jetzt setzte sich Shira an ihr Terminal und ging die Formulierungen ihres letzten Einspruchs durch. Sie fühlte sich deprimiert, der gestrige Abend war ihr lang und

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