Er, Sie und Es. Marge Piercy

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Er, Sie und Es - Marge Piercy

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und spüre die Gefahr, die um uns in diesem zerbrechlichen modernen Ghetto wächst. Dies ist eine Geschichte meiner Familie aus alter Zeit, als die Welt aufzubrechen schien. Sie nannten es Wiedergeburt. Renaissance. Aber nichts kommt je genauso wieder. Die Welt bewegt sich auf der menschlichen Ebene in Epizyklen, obwohl zu der Zeit, in der meine Geschichte erzählt werden möchte, es ebenjenes epizyklische Weltbild war, das von einigen wenigen mutigen Astronomen verworfen wurde. Sie traten für ein System ein, einfach, klar und völlig anders als das menschliche oder vielmehr anthropozentrische Weltbild, das den meisten, die damals in Europa lebten, als unwandelbar galt und als zutiefst christlich. Aber wie das ptolemäische Weltbild hat auch meine Geschichte ein menschliches Zentrum.

      Dies ist im Besonderen die Geschichte eines gewissen Judah Löw, mehrerer Männer und Frauen um ihn herum und eines Un-Mannes. Aber es ist auch die Geschichte einer Stadt und eines Städtchens innerhalb einer Stadt, eines Städtchens so einzigartig, so eingekesselt und so gefährdet wie unsere eigene freie Stadt der Juden hier an der steigenden, vergifteten See. Prag ist die Stadt, das schöne Prag, das just seine graue und goldene, senf- und terracottafarbene, erdbeerrote und pistaziengrüne Stuckwärme annimmt, das sich gerade zu der Stadt gestaltet, durch deren barocke Formen ich im Frühling meines zweiundzwanzigsten Lebensjahres ging – im Jahre 2008 –, während ich bei jenem brillanten Manne Philosophie studierte, der ein so großer Lehrer war und ein so ungeschickter Liebhaber, und doch hielt ich den Tauschhandel von meinem Fleisch für seine Gesellschaft und seine Gespräche für angemessen, und ich hatte recht. Ich wanderte durch die verwinkelten Gassen und erklomm die Treppen, träumte von Kafka, dessen Geschichten ich immer bei mir trug, und träumte auch von Einstein, der an dieser Universität gelehrt hatte, während er seine Relativitätstheorie schuf. Ich war eine hochbegabte Studentin, die beste Studentin meines Professors und für eine Zeit seine Liebste, während in jenem Frühling der Flieder blühte.

      Jeden Tag schaute ich von den Universitätsgebäuden hinüber in das, was einmal das Ghetto gewesen war; jeden Tag durchquerte ich es, vorbei an der Altneuschul, vorbei am jüdischen Friedhof zu meinem Studenten- und Arbeiterviertel, einem mittelalterlichen Pferch enger Gassen, zwei- und dreistöckige Häuser, an denen senfgelber Stuck die uralten zerbröckelnden Ziegelsteine in der Rasnovkastraße übertünchte. In der Pinkas-Synagoge, erbaut im fünfzehnten Jahrhundert und schon alt, als Rabbi Judah Löw durch diese engen Gassen schritt, stehen an den kahlen Innenwänden die 77.397 Namen von Juden angeschrieben, die in den Todeslagern zu Rauch verbrannt wurden, im gleichen Jahr, als meine Mutter in Cleveland, Ohio geboren wurde, einundvierzig Jahre vor meiner eigenen Geburt. Der Flieder stand in Blüte, als ich meine Tochter Riva empfing, die ich, kaum der Jugend entwachsen, in aller Stille aus Prag forttrug, ein Klümpchen in meinem Leib wie ein Souvenir der Freude, so wie andere Besucher Kunsthandwerk aus tschechischem Kristall davontrugen. Und in der Tat, Riva war von Kindesbeinen an ungefähr so formbar und gefügig wie Kristall.

      Innerhalb des Prags von 1600 befindet sich die Judenstadt, das ummauerte Ghetto, der Glop seiner Zeit, mit Häusern, die sich wie Schuhlöffel in Höfe zwängen, und Familien, die in einem Zimmer hausen, oder mehreren Familien, die in einem Raum zusammengepfercht sind, der ihnen kaum genug Platz bietet, um sich nebeneinander schlafen zu legen – Mauern, die selten den Pöbel abhalten, der sich regelmäßig erhebt, um zu brandschatzen und zu morden. Es ist nicht viele Jahre her, seit ein Pöbelhaufen plündernd durch die Straßen zog und ein Viertel der Einwohner hinschlachtete, verstümmelte und zerrissene Leiber wie blutiges Gerümpel auf die Straßen geworfen, umgestürzte Wiegen, aufgespießt, während sie beteten, aufgeschlitzt im Wochenbett. Nicht einen Überlebenden gab es, der nicht einen Gatten, eine Frau, ein Kind, eine Mutter, einen geliebten Menschen zu beerdigen hatte. Im Jahre 1543 wurden alle Juden aus Prag vertrieben, wurden plötzlich mit dem, was sie tragen konnten, aus ihren Häusern gejagt und im feindlichen Umland ausgesetzt, um anderswo ihren Weg zu machen, irgendwo anders. Erst gestern hörten die Juden von Prag Reden der Bürger, auch aus den Handwerksgilden, dass es Zeit sei, sie wieder davonzuschicken. Zu Lebzeiten von Judah Löw wurden alle jüdischen Bücher beschlagnahmt, viele verbrannt und der Rest durch ein enormes Lösegeld zurückgekauft. Jedes Jahr zahlen die Juden einen ›Leibzoll‹ – eine Steuer auf ihr Recht zu leben.

      Sie tragen auf ihren Mänteln, Männer und Frauen und Kinder, ein gelbes Symbol, das sie als Juden kennzeichnet. Es ist nicht der Sechsstern, der Magen David, weil dieses Symbol nur ein örtliches Emblem auf dem Banner der Prager Gemeinde ist und ungewöhnlich anmuten wird, wenn es später für einen der Menschen, denen wir bald begegnen werden, benutzt werden wird, auf seinem Grabstein. Nein, das erforderliche Mal ist einfach ein ausgeschnittenes Stück Gelb, das jeder Jude zu tragen hat, um auf den ersten Blick erkennbar zu sein. Es ist nicht immer so gewesen. Tatsächlich stehen die Dinge in diesem Augenblick für eine kleine Weile ein wenig besser für die Juden von Prag, doch es ist nur eine Atempause. Das Leben ist, seit sie zurückdenken können, merklich schlechter geworden, und es ist ein Segen für ihren ruhigen Nachtschlaf, dass sie noch keine Ahnung haben, wie schlecht es in ein paar Jahren werden wird, wenn der Dreißigjährige Krieg über sie hinwegfegen wird, hin und her und hin und her wie eine toll gewordene Sense, die Menschenköpfe erntet.

      Jahrhundertelang hatten wir eine kleine, unehrenhafte, aber notwendige Rolle eingenommen: Wir waren die Bankiers, die Pfandleiher, die Geldwechsler, die Quelle für Darlehen; das war die Arbeit, die uns erlaubt war. Doch als auch Christen Bankiers wurden, trachteten die Juden, Arbeiten zu tun wie jedermann sonst, und dies, obwohl uns die meisten Gewerbe von Seiten der Obrigkeit verboten waren. Wir mussten einem Broterwerb nachgehen, und wir konnten uns nicht einfach gegenseitig die Wäsche besorgen. Bis zur Zeit des ersten Kreuzzuges lebten die Juden meist in eigenen Vierteln, wie es Menschen eben tun, in der Nähe ihrer Verwandten, ihrer Freunde, und in einer Stadt wie Prag mochte es drei oder vier mehr oder minder jüdische Viertel geben, und wenn ein Jude woanders leben wollte, wen kümmerte es? Aber seit dem ersten Kreuzzug war die Kirche kriegerisch, sie weitete sich aus, entschlossen, zu erobern oder anderen Glauben auszumerzen. Das Vierte Laterankonzil verfügte, Juden seien in Ghettos einzusperren oder zu vertreiben.

      Im Ghetto von Prag gibt es wenige wohlhabende Juden, die weiterhin Handel in der Fremde finanzieren, deren Geschäftsunternehmungen weitreichend und wagemutig sind, und viele, viele arme Juden. Es gibt eine Handvoll wie die Löws zwischen der Hölle der ganz Armen und dem Himmel der Reichen. Aber in der Judenstadt ist jedermann, die reichen Maisls, die mittleren Löws, die Hungernden, die den Abfall um ein Stückchen Brennholz durchwühlen, alle sind sie auf kleinstem Raum zusammengepfercht und sie kennen sich bei Namen und sie alle kennen einander Handel und Wandel. Es ist ein heißer, enger Ort, Tag und Nacht lärmerfüllt, wo der Lumpensammler auch ein großer Gelehrter sein mag und der Rollkutscher ein Kantor, der singen kann, bis die Vögel in Ohnmacht fallen, oder ein Fiedler, der deine Knochen erschauern lässt. Die reichen Juden versuchen alle paar Jahre, ein Haus oder etwas Land außerhalb zu erwerben, aber sie sind zu verhasst. Niemand will an sie verkaufen. Erwägt jemand ein Angebot, so widerfährt diesem Verkäufer etwas oder aber das Haus, das Land verschwindet sofort vom Markt. So bleiben auch die Reichen eingesperrt in diese große, zänkische Familie, umgeben von Unmut und Argwohn der Armen, deren Hütten und Behausungen sich an die Mauern der vornehmen Häuser drängen und deren Gerüche und Geschrei durch jedes Fenster, jede Ritze dringen ebenso wie die Ratten, die sich in den Kellern vermehren. Rabbi Löw streitet mit den Reichen, weil er sie zur Rechenschaft zieht, er schilt sie und er besteht darauf, dass die Armen das Recht auf die gleiche Erziehung haben wie die Söhne der Wohlhabenden.

      Lass uns Judah Löw betrachten, um den sich diese Geschichte ballt wie eine Wolke, die auf den Schultern eines Berges ruht. Er wird der Maharal genannt. In jenen Tagen haben große Rabbis Spitznamen wie Sportstars oder Stimmiestars. In den Ghettofestungen sind sie Kulturhalbgötter und gleichzeitig Unterhaltungskünstler. Er wird geheißen: Judah Löw ben Bezalel, Judah der Löwe. Ein Löwe unter den Juden.

      Der Maharal ist ein gescheiter, streitbarer Mann, ein hitzköpfiger Kabbalist, durchdrungen von uralter Tradition, so dass die Tora für ihn die Welt begleitet, beseelt und bildet, dabei ist er neugierig, aufgeschlossen für die Wissenschaft und die Gedankenflüge seiner Zeit. Der Maharal ist ein griesgrämiger Heiliger von überragendem

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