Er, Sie und Es. Marge Piercy

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Er, Sie und Es - Marge Piercy

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mit seinen Schmähungen, seinen Beleidigungen. In jedem geistigen Wettkampf übermannt ihn der Wille zu siegen, und er ficht, um seinen Gegner zu vernichten. Er steht fast allein in seiner Zeit mit der Ansicht, dass jede Meinung ein Recht hat, ausgesprochen zu werden – er glaubt ganz unzeitgemäß an die Redefreiheit, nicht, weil er ein Relativist wäre. Nein, er glaubt an die Wahrheit seiner Religion. Aber er glaubt zu fest an die Heiligkeit des Denkvermögens, um es durch das Verbot jeglicher Ideen zu verkrüppeln. Er liefert sich unendliche Wortgefechte mit den berühmten Rabbis seiner Zeit. Im Dezember 1599 jedoch erhält er eine Aufforderung, öffentlich mit einem Priester zu disputieren, ein gefährlicher Wettstreit, denn als Jude hat er zu verlieren. Tut er es nicht, so hat die Kirche vielfältige Möglichkeiten, sich zu rächen, rasch oder gemächlich, ganz nach Belieben, und ohne Ende – oder mit dem üblichen Ende. Dies ist keine Zeit, da jemand, der sich den Anblick wünscht, das Schauspiel brennender Juden entbehren müsste. Aber wie kann der Maharal den Disput absichtlich verlieren? G-t würde nichts Geringeres als den Sieg anerkennen. Als Jude ist er verpflichtet, all seine Geisteskräfte einzusetzen. Der Bibeldeuter dei Rossi, dessen Gedanken der Maharal verabscheut, sagte, wenn du G-t ein Opfer bringen willst, opfere es der Wahrheit, und vielleicht ist das die einzige Äußerung von Rossi, mit der der Maharal übereinstimmt.

      Der Maharal bereitet sich auf einen öffentlichen Disput mit dem Priester Thaddeus vor, einem Dominikaner, der zuvor in den Diensten der spanischen Inquisition stand. Thaddeus wurde kürzlich nach Prag versetzt, wo unter Kaiser Rudolf ein Klima der Toleranz zu blühen scheint, dessen Fortbestand oder gar Umsichgreifen nicht erlaubt werden kann. Judah findet in seinem Herzen Zorn und Verachtung für seinen Gegner, der so viel Zerstörung, Marter und Tod in anderen Leben anrichtet und dabei die Sicherheit der eigenen Stellung genießt, doch er bemüht sich, seinen Groll zu überwinden. Er erwägt, sich auf versagende Gesundheit zu berufen, aber solche Berufungen haben selten Wirkung. Er erfreut sich bester Gesundheit, obwohl er ein alter Mann ist. Dennoch war er diesen Winter bedrückt. Er hat sich nicht erholt vom Tode seines einzigen Sohnes.

      Wenn er seinen Sohn im Geiste vor sich sieht, sieht er nicht den Fünfundfünfzigjährigen mit den grauen Strähnen im Bart, sondern vielmehr das begabte, aber oft zu empfindsame Kind mit den schwachen Augen und der zittrigen Stimme. Er denkt, dass er seinem Sohn ein schlechter Vater war und seinen Töchtern wahrscheinlich ebenfalls, obwohl er die überwiegend Perl überließ, seiner rührigen baleboßte von einer Frau. Er hegte große Erwartungen für den Sohn, auf den er so lange warten musste, den Nachfolger, den Träger seines Namens in die Zukunft. Nun hat er ihn überlebt. Das ist ein beklagenswertes Schicksal, das ich besonders fürchte. Ich habe eine vogelfreie Rechtsbrecherin großgezogen, die ihre Bahnen weit von mir entfernt zieht und auf die ein Kopfgeld ausgesetzt ist. Werde ich überhaupt von ihrem Tod erfahren? Während ich durch meine geschäftigen, gemütlichen Tage wandere, bin ich in Gedanken oft bei Riva. Wie der Maharal war ich eine schlechte Mutter und eine wunderbare Großmutter.

      Obwohl der Maharal alt ist – nicht, wie Leute mich alt nennen, und dann schaue ich überrascht in den Spiegel und sage: Wer ist dieser Sack mit den Falten und Runzeln? Wer hat meine Zähne gelockert? Wer hat meine Brüste aufgeweicht? Nein, der Maharal war alt genug, um sein Alter zu spüren. Meine Familientradition sagt, er war einundachtzig; die Bücher berichten verschiedene Geburtsdaten und somit eine Mischung von Altersangaben bis hinauf in die Neunziger. Ich werde die Familienerinnerung übernehmen. Nichtsdestoweniger ist er immer noch tätig und immer noch schöpferisch. Seine Stimme hat nichts von ihrer Kraft verloren, und sein Verstand ist so messerscharf wie eh und je. Er ist vielleicht ein wenig heftiger in seiner Sprache und ein wenig härter im Streitgespräch, als er es in mittleren Jahren war, und er fühlt, dass ihm nur noch wenig Zeit bleibt und viel zu tun. Sein Greisenalter ist unerbittlich und leidenschaftlich. Er erscheint nicht kleiner, sondern größer, als er in seiner Jugend stand, seine Augen sind so hell und feurig wie eh in einem immer hagereren Gesicht. Statt seine Ecken und Kanten abzuschleifen, hat das Alter sie geschärft. Er ist ein Adler.

      Judah ist vor vierzig Jahren nach Prag gezogen, aber immer, wenn die Zeit kam, einen Oberrabbiner zu wählen und er offenkundig der Würdigste war, wurde er übergangen. Zu tief in der mystischen Kabbala vielleicht, zu streitlustig, ein zu origineller Denker. Ein Störenfried. Nicht, dass sein Licht völlig unter einem Scheffel stand. Er leitete eine berühmte Talmud-Schule. Er war der Freund des reichsten Juden in Prag, Mordechai Maisl. Er war umgeben von Schülern und Kollegen. Unmittelbar bevor er 1592 Prag für die letzte Exilperiode verließ, schickte Kaiser Rudolf nach ihm und empfing ihn privat, ein unerhörter Umgang mit einem Juden.

      Auch für einen rüstigen alten Mann war es ein langer Weg durch die Tore des Ghettos, auf der Karlsbrücke über die weite Moldau mit ihren weißen Stromschnellen, durch die Straßen der Malá Strana, wo sich der Adel hinter hohen Mauern inmitten von Obstgärten und Weideland prächtige Paläste erbaut hatte. Über den steilen, gewundenen Straßen dräute das von Türmen und Spitzen starrende Schloss auf seinen Felsklippen. Er lehnte sich auf die Arme seines Schwiegersohns Itzak Cohen und seines derzeitigen Lieblingsschülers Jakov Sassun. Er kämpfte sich die lange Treppe empor, sein Herz schüttelte seinen schmächtigen Körper, während sie sich an die Mauer drückten, um den Pferden auszuweichen, die vorbeigeritten oder -geführt wurden. Unter ihnen erhoben sich die Stimmen der Stadt und hingen wie leuchtende, flatternde Banner über den roten Dächern.

      Judah schritt durch die mächtige Toreinfahrt und zwei Innenhöfe, eine ausladende Prunktreppe empor und durch Saal um Saal, jeder reich geschmückt, riesig und bar jeder Funktion, aber voller müßiger Höflinge in Brokat und Samt und Seide, deren Köpfe auf Halskrausen saßen wie auf Tellern, bis er gezwungen war, Itzak und Jakov in einem Vorzimmer zurückzulassen. Er wurde schließlich in einen kleineren, mit Samt verkleideten Raum geführt, wo in Vitrinen das Horn eines Narwals zur Schau gestellt war, ein zweiköpfiger Embryo in einer Flasche, eine Alraune in Gestalt eines phallischen Mannes, allerlei Mineralien, Magnetsteine. Judah hatte keine Zeit zu staunen, bevor Prinz Bertier ihn begrüßte, aber er spürte noch eine andere Präsenz. Während die Audienz dahinholperte, mit langen Pausen und Geflüster, folgerte Judah, dass der Kaiser hinter einem von der Decke bis zum Boden reichenden Samtvorhang saß und den Prinzen Bertier benutzte, um seine Fragen zu stellen. Das dauerte nicht lange. Der Kaiser verlor die Geduld, seine Fragen Bertier zuzuflüstern, und begann hinter dem Vorhang zu sprechen; endlich stürzte er hervor und nahm sich einen Sessel. Das Thema dieser höchst ungewöhnlichen Audienz, die einem Juden gewährt wurde, war ein Geheimnis; die Geschichtsbücher schweigen. Selbst in seinem Bericht für die Nachwelt vertraute Itzak das Thema des Gesprächs nicht dem Papier an. Aber hat die Familie nicht immer ihre Geschichten?

      Nun hielt der Kaiser die Juden als sein Eigentum – als seine eigene Milchkuh, seinen eigenen privaten Steuerweinberg, aus dem sich immer noch mehr Saft pressen ließ. Mit sehr viel Furcht und mit verstecktem Zorn und mit seinem wie Wurfmesser geschärften Witz lauschte der Maharal dem Kaiser. Das Thema, das der Kaiser ansprach nach vielen Reden über das Weltall und die seltsamen neuen Theorien des Kopernikus, die den meisten, die davon hörten, nur offenen Spott entlockten und die die Kirche verdammte, war die Astrologie. All seine Ratgeber glaubten an die Astrologie als bestimmend für Charakter und Schicksal des Menschen. Sein eigener vorzüglicher Astronom, Tycho Brahe, stellte Horoskope. Wie dachte der Rabbi darüber?

      Der Maharal dachte rasch nach. Die Astrologie war seinerzeit ein geachtetes Gewerbe, und so wie heutzutage jeder reiche Macher seinen Haus-Chemotherapeuten hat, der ihm genau die richtigen Psychopharmaka verabreicht und am Monitor die Spurenelemente und Nährstoffe im Blut und die allergischen und Immunsystem-Reaktionen überwacht, so hatten die Reichen und Mächtigen damals ihren Hofastrologen, der ihnen die richtigen Zeitpunkte zum Handeln und zum Abwarten nannte, die günstigste Zeit für Heiraten und Feierlichkeiten. Judah mutmaßte, dass der Kaiser eine Vorhersage erhalten hatte, die ihn beunruhigte.

      Rudolf stand in dem Ruf, ein schwacher und unentschlossener Herrscher zu sein. In der Tat schien er den Krieg wenig zu lieben, was in seinen Tagen als Zeichen von Charakterschwäche galt. In Wahrheit ermutigte er die Wissenschaften und die Künste und übte eine milde religiöse Toleranz, widerstand gewöhnlich dem besessenen Eifer der

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