Er, Sie und Es. Marge Piercy

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Er, Sie und Es - Marge Piercy

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abgriffen, war eigentlich größer. Ihre Hände umklammerten den Gurt, der sie an ihrem Platz hielt. Der Waggon war fensterlos, da es untertage absolut nichts zu sehen gab. Sie fuhr zwei Stunden, bevor sie in Chicago Quartier nahm; sie verbrachte die Nacht in der U-Bahnstation, eingeschlossen in eine Kapsel von 1,80 mal 2,40, denn nach Einbruch der Dunkelheit würde sie nie und nimmer sicher durch den Glop gelangen.

      Am nächsten Morgen hatte sie noch zwei Stunden bis Boston. Sie mochte gar nicht an Ari denken, mit seinem Vater auf dieser Plattform zwischen Erde und Mond. Weinte er? Fragte er sich immer noch, wo sie blieb, warum sie nicht gekommen war, ob sie je kommen würde? Sie fühlte sich in Stücke gerissen. Würde Josh auf erste Anzeichen einer Mittelohrentzündung achten? Sie hatte versucht, auf Pazifika anzurufen, aber Josh hatte die Verbindung nicht angenommen.

      Sie hatte keine Ahnung, wie es sein würde, mit Avram zu arbeiten, sie hatte keine Ahnung, wie es sein würde, heimzukehren und wieder bei ihrer Großmutter zu leben. Sie war mit siebzehn von zu Hause weggegangen und seitdem nie länger als eine Woche dort gewesen. Bei diesen Besuchen beförderte ein Schwirrer sie aus der Konzern-Enklave in die freie Stadt, in gut einer Stunde aus der totalen Festungssicherheit in den zerbrechlichen Frieden, ohne durch den maßlos überbevölkerten Glop zu müssen. Jetzt fühlte sich ihr Leben an wie ein Kristallgebilde, das in gleißende, gefährliche Splitter zersprungen war und sie blutend zurückließ. Alles, wofür sie gearbeitet hatte, alles, was sie mit ihrem ganzen manchmal überbordenden Elan geschaffen oder erhalten hatte – ihre Ehe, Ari, ihre Arbeit –, war zerstört oder ihr geraubt worden. Im Zug herrschten an die vierzig Grad. Sie rang nach Atem in der schlechten Luft.

      Erschöpft und von Sauerstoffmangel gepeinigt stolperte sie aus der U-Bahn. Ihr Kreuz tat weh und ihre Nebenhöhlen brannten. Sie hatte Kopfschmerzen, als habe ihr Gehirn sich Blasen gelaufen. Doch jetzt war sie im Glop und hatte keine Zeit, sich um Wehwehchen zu kümmern, wollte sie unversehrt und am Leben bleiben. Über ihren rückenfreien Dienstanzug zog sie den dünnen schwarzen Überwurf, den fast alle Frauen und alte Leute und viele Männer auf den Straßen trugen. Er verdeckte Alter, Rang, Geschlecht und ließ alle nahezu gleich groß aussehen. Während ihrer Jahre bei Y-S hatte sie ihn nicht getragen, in den Multi-Enklaven gab es keine Gangs. Sie zog die Handschuhe aus Metallmaschen über die Hände, obwohl ihr klar war, dass sie damit höchstens den einen oder anderen Messerschlitzer abschreckte und dass jeder richtige Handhacker das Schutzgewebe ohne weiteres durchlasern konnte. Hätte sie sich ein Schild umhängen können, das anzeigte, wie niedrig ihr Kredit stand, sie wäre in Sicherheit gewesen. Ihre Hand war heute fast wertlos. Malkah hatte ihr wohl genug überwiesen, um ihr heimzuhelfen; ansonsten war sie blank.

      Im Glop lebten Tagelöhner und Gangniños und Arbeitslose – die große Mehrheit der Menschen auf dem Kontinent. Die Übrigen waren zumeist Bürger einer Multi-Enklave. Die freien Städte waren Ausnahmen, wie auch die Landwirtschaftszonen. Die meisten Einwohner freier Städte wie der, in der sie aufgewachsen war, hätten sich direkt an einen Multi verkaufen können, statt von Gelegenheitsaufträgen zu leben, zogen es aber aus irgendwelchen persönlichen Gründen vor, außerhalb der Enklaven zu bleiben: eine Minderheitsreligion, eine sexuelle Neigung, die von dem betreffenden Multi nicht geduldet wurde, vielleicht auch einfach ein archaischer Drang nach Freiheit.

      Der Umhang bauschte sich um sie und roch muffig. Die Jahre, die er zusammengefaltet am Grunde eines Speicherwürfels gelegen hatte, hatten ihn nicht besser gemacht, doch sie fühlte sich sofort sicherer darin, als sie sich unter die Menge auf den Gleitern mischte. Die meisten trugen schwarze Umhänge und wirkten darin wie finstere Nonnen. Sie näherte sich den oberen Ebenen der Station und tastete nach ihrer Filtermaske. Schutzbrille, Maske, Umhang, Kühlmittel; sie hatte alles, was sie zum Betreten der Straße brauchte. Dazu half ihr eine Dosis Amphetamin aus einer Kapsel, die sie von einem Händler kaufte, kurz mit ihrem Taschen-Scanner überprüfte und dann einwarf, während der Gleiter sie ruckend beförderte. Die dämpfte ihre Paranoia so weit, dass sie sich im Labyrinth der Station zurechtfinden konnte. Hunderte kampierten dort und schliefen in den schmutzstarrenden, zerfallenden Gängen, die Tag und Nacht widerhallten von fernen Stimmen, unterdrückten Schreien, Trommeln, Zak-Musik, dem Geriesel von Abwässern, dem Zischen ausströmender Kühlmittel. In einigen Gängen waren Läden, die Kleidung verkauften, Bottichnahrung, Fertignahrung, Stimmies und Spikes. Spikes waren in der Y-S-Enklave strikt verboten. Sie waren noch lebensechter als Stimmies. Statt nachzuvollziehen, was ein Schauspieler sah, fühlte, berührte, empfand, wurde der Benutzer unmittelbar in das Geschehen hineinversetzt, und die Wahrnehmungen waren noch intensiver – so hatte sie gehört. Man erzählte sich von tot aufgefundenen Jugendlichen, die sich in ihre Lieblingsabenteuer oder Pornos versenkt hatten, bis sie verhungert waren.

      Wenige Multis erlaubten Freizeitdrogen, es sei denn, der Konzern selber gab sie aus. Im Glop wurde jede jemals erfundene Droge von Straßenhändlern angeboten. In anderen Fluren hausierten Händler mit dem Abfall der Zeiten: Müll aus den Enklaven, Gerümpel aus dem vorigen Jahrhundert, zu Möbeln, Kleidern, Waffen umgearbeitet, verdrahtete Skelette von ausgestorbenen Exoten wie Rotkehlchen und Grasmücken, ausgeschlachtete Teile, die zu behelfsmäßigen Robotern umgebaut waren. Ihr Blick fiel auf ein Messer aus organischem Harz, das sich mit Prüfgeräten nicht ausmachen ließ.

      »Wie viel Betty für den Stecher?«

      »Für dich, Prinz?« Hinter der Metallmaske glitzerten blutunterlaufene Augen. Sie zuckte zusammen. Prinz war jemand mit Geld. Sie konnte die Glop-Sprache nicht sprechen und wurde sofort als Grützer erkannt, als Multi-Angestellte. »Cuarenta dos. Zweiundvierzig. Der Stecher jault nicht unterm Strahl.«

      »Treinta. Dreißig.« Sie ließ das Messer wieder in die Auslage fallen.

      Sie feilschten noch fünf Minuten nach altem Brauch. Sie bezahlte sechsunddreißig. Er hatte ein reguläres Kredit-Gerät. Sie zog den Handschuh aus und steckte vorsichtig die Hand hinein. Er hatte das Gerät manipuliert, so dass anstelle des Betrags und der Gutschrift ihr Kontostand erschien.

      »Ey, Prinz, harte Zeiten, was? Abgebrannt wie ’ne leere Wand. Du klingst como junges Fleisch. Ich hab ’n sauberen kleinen Käseladen …«

      Sie steckte das Messer in den tiefen Saum ihres Ärmels und schritt hinaus. Heiß war es, heiß, heiß, heiß. Ihr Hirn schmolz in den giftigen Dämpfen. Sie war hungrig und durstig. Sie besaß noch etwas Wasser, das musste ihr reichen. Sie hatte keine Ahnung, welche Krankheiten zurzeit im Glop grassierten, aber es gab ständig neue Arten von Typhus und Hepatitis, neue Virusplagen, die immer noch von den Tropen auf Eroberung ausgingen. Sie musste ihren Hunger eben ertragen. Es nutzte nichts, sich auszumalen, woraus die › Burger‹ oder ›Sushi‹ gemacht waren, Tier, Pflanze, Mineral. Ob sie in ihrer vorigen Inkarnation gelebt hatten oder nicht, jetzt wimmelten sie nur so von ortsüblichen Protozoen und Bakterien. Die Essensgerüche ließen ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen, aber sie verlangsamte keine Sekunde ihre Schritte. Geh rasch, aber renne nie. Alte Straßenregel. Einige der Speisen wurden auf Holzkohle gegrillt, andere auf Laserbrennern gekocht, wieder andere wurden einfach über Feuern gewendet, auf dem Boden des alten Gebäudekomplexes, den Tunneln, die einmal ein Untergrundverkehrssystem gewesen waren. Teile der alten Anlage waren überflutet; der Rest war bewohnt.

      Die meisten der Händler hockten ebenfalls in schwarzen Umhängen da, Gangmitglieder hingegen waren an ihren Uniformen zu erkennen, an Bemalungen, Tätowierungen, daran, dass sie wagten, ihre Waffen, Beine, Gesichter und Brustkörbe zu zeigen. Sie trugen Waffen offen zur Schau, alles Mögliche von Messern bis zu Lasergewehren; offiziell waren Waffen illegal, aber die einzigen Gesetze, die hier galten, waren die Reviergesetze der Gangs, die einen Teil des Glop kontrollierten. Sie trafen sich zu Raubzügen oder Palavern mit Bittstellern, verunsicherten Marktplätze und öffentliche Orte wie die U-Bahnstationen, die Krankenhäuser.

      Scharfer Gestank von Urin und Kot. Ein Toter. Nein, er lebte noch. Um den Körper mit zerfetzter Brust, aus der stoßweise das Blut spritzte, stand ein singender Kreis von Gangniños. Alle trugen abgeschnittene Jacken in Violett und Gold, den Rücken schmückte eine zähnefletschende

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