Er, Sie und Es. Marge Piercy
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Warum der Maharal? Nun waren zu der Zeit erst sieben Bücher des Maharal veröffentlicht, aber mehrere hatten als Manuskript die Runde gemacht. Judah konnte ziemlich sicher sein, dass der Kaiser von seiner langen Abhandlung wusste, die diese Pseudowissenschaft gründlich zerpflückte. Offensichtlich hatte ihn der Kaiser deshalb ausgewählt, und er hatte nicht die Absicht zu widerrufen. Der Kaiser suchte nach einer Begründung, um einen der Astrologie entsprungenen Ratschlag verwerfen zu können, so folgerte Judah, und er würde ihn liefern. So sei es. Das ist, was gemäß der Familienlegende zwischen Rudolf und Judah geschah.
Kurz nach dieser Audienz wurde der Maharal wieder einmal für das Amt des Oberrabbiners übergangen. Er nahm daraufhin eine Stellung in Posen an, schüttelte den Prager Staub von seinem Hut und brach mit seiner Familie auf.
Er kam nicht zurück, bis sie ihm schließlich gaben, was er wollte. Die Legende, die sich nun um ihn rankt, gehört in diese Zeitspanne, da der Maharal vor kurzem im Triumph als Oberrabbiner nach Prag zurückgekehrt ist. Der Maharal ist ein gelehrter Mann, bewandert nicht nur in Tora und Talmud, nicht nur in Geschichte, in der Wissenschaft und Philosophie seiner Zeit, sondern auch in den Geheimnissen der Kabbala. Er macht einen ganz klaren Unterschied zwischen den Wahrheiten der Wissenschaft, die sich auf Beobachtung gründen und die sich ständig verändern – so wie die Welt sich ständig verändert (eine radikale Auffassung, denn die Welt hatte jahrhundertelang als statisch und unbeweglich gegolten) –, und den Wahrheiten der Religion, die von ganz anderer Art sind. In dieser Sphäre ist der Gedanke Handeln und sind die Worte nicht Künder der Dinge oder Zustände, sondern reale und mächtige Kräfte. Das ist natürlich die Welt der künstlichen Intelligenz und der Computerbasen, in der ich arbeite – die Welt, in der das Wort real ist, das Wort ist Macht, Energie ist geistig und physisch zugleich, und alles, was als Materie im Raum erscheint, ist eigentlich immateriell. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich mit zunehmendem Alter immer mehr zur Mystikerin werde. In meiner Jugend war ich besessen von Sex und Psychologie, von Mode und Eleganz; jetzt, wo ich an das Ende meines geflochtenen Seils gelange, fasziniert mich das heilige und mächtige Licht, das durch die Geschichte leuchtet, die Mächte, die ihre Dramen durch uns ausspielen, das Gute und das Böse, der Schaden und der Ausgleich, den unsere Wanderungen und unsere Entscheidungen anrichten.
Ist es richtig, diese Geschichte zu erzählen? Es ist eine Geschichte der Kabbala, der frommen Magie. Die meisten Gelehrten bestehen darauf, dass sich dafür keine Grundlage, kein Anhalt findet im Leben des vorbildlichen religiösen Denkers und Erziehungsreformers, dieses Historikers und Polemikers. Was hat er zu tun mit der Erschaffung von Monstren? Aber als Frau, die ihr Berufsleben damit zubringt, Märchen und Monstren zu erfinden, wie kann ich da das Gefühl haben, Judah zu schmähen und zu verleumden? Ich glaube, dass diese Geschichte wahr ist, wenn auch vielleicht nur im übertragenen Sinne, obwohl Moshe Idel ein ums andere Rezept zur Herstellung von Golems gefunden hat, so genau wie die Anweisungen zum Bau einer Jurte oder zum Backen von Baguettes. Ich kann nicht immer zwischen Mythen und Wirklichkeit unterscheiden, weil die Mythen die Wirklichkeit formen und weil wir aus dem heraus handeln, was wir zu sein meinen; wir wissen auf vielen Ebenen Wahrheiten, die sowohl irrational sind als auch vernunftbegründet oder experimentell. Unser Geist hilft die Welt zu erschaffen, die wir zu bewohnen meinen. Ich bin selbst eine Zauberin, die im letzten Herbst eine Maschine verführt hat, deshalb kann ich mich in den Maharal zurückversetzen und sagen, dass auch er ein Geschöpf erschaffen haben mag, das im Volksgedächtnis als das seinige verzeichnet ist. Meinst du nicht, mein Freund, dass du etwas über das normal Menschliche Hinausgehendes bist, ein Wunder?
Als nun der Maharal in jenem Winter spürt, wie die Gefahr wächst und wie sich ein Netz aus Intrigen immer enger um sein Volk schnürt, wohin soll er sich da wenden außer zur überlieferten mystischen Kunde? Die Prager Juden sind in ihr Ghetto eingepfercht und sie können nirgendwohin entkommen und nirgendwohin entfliehen. Die Juden von Spanien, die tausend Jahre in Frieden und Hochkultur lebten, wurden über Nacht aus dem Land, das sie für das ihre hielten, vertrieben, wurden aus ihren Wurzeln gerissen und ihren Gräbern und ihren Synagogen. Die Juden von England wurden in Elend und Wanderschaft getrieben. Die Juden von Portugal wurden aus ihrer Heimat verjagt. Wie kann er die Juden von Prag retten?
Jedes Jahr am Versöhnungstag verliest er von der Kanzel ein Gedicht von Avigdor Kara. Es betrauert die dreitausend Juden, die hingemordet wurden, als das Prager Ghetto von einer mit Schwertern, Streitkolben, Spießen und Sicheln bewaffneten Meute überfallen wurde. Hinterher verurteilte der königliche Schatzmeister die Juden wegen Anstiftung zum Aufruhr zu einem Bußgeld von fünf Tonnen Silber. Obwohl Rudolf geneigt ist, sie zu schonen, so hat er andere, dringlichere Geschäfte. Die Juden sind entbehrlich. Die reichen Bürger der Stadt hassen sie. Als sichtbar abgesondertes Volk sind sie immer in Gefahr. Die Gegenreformation nimmt an Heftigkeit und Stoßkraft zu. Die Kirche ist kriegerisch und erbost über die Widerspenstigkeit der Juden, so ähnlich der widerspenstigen Weigerung der Protestanten, doch leichter zu brechen.
Eine neue Gefahr ist die Blutbeschuldigung. Zu Pessach öffnen wir jedes Jahr am Seder-Abend die Tür, um Elia, den großen Propheten der Hoffnung und der Freiheit, einzulassen, wenn er zu uns kommen will. Ich kann mich erinnern, wie ich Riva erklärt habe, ich kann mich erinnern, wie ich Shira erklärt habe, und auch Gadi, ja, denn zu der Zeit war Sara zu krank, um den Seder zu machen, und Avram und Gadi kamen beide zu uns, wie diese Sitte in den schrecklichen Jahren der Blutbeschuldigung entstand. Damals glaubten die Christen, die Juden täten das Blut von Christenkindern in die Pessachmatze. Es ist eine Verballhornung der Geschichte vom Exodus, dem Tod der Erstgeborenen und der jüdischen Kinder, die vom Todesengel verschont wurden, eine Verwechslung mit dem Seder-Wein, der sich in ihrer Messe in Blut verwandelt. Was haben wir mit Blut zu tun, denen verboten ist, es zu verzehren? So begannen wir, die Tür zu öffnen, um zu zeigen, dass wir nichts zu verbergen haben. Wird Shira je wieder zu Pessach nach Hause kommen? Erst verheiratet mit dieser arroganten, zerbrochenen Kreatur. Jetzt geschieden, doch sie trödelt herum in der abgekapselten Konzernwelt.
Eine andere zunehmende Gefahr ist der Priester Thaddeus, der eigens aus Spanien nach Prag gekommen ist, um die Ziele der Inquisition zu verwirklichen. Er will einfach nicht glauben, dass Rudolf den Juden von Prag gestattet, ein Verlagshaus zu unterhalten, das Bücher in Hebräisch druckt, dass er ihnen erlaubt, Prozessionen abzuhalten und, wenn auch unter Anfeindungen, Gewerben und Künsten nachzugehen. Er will nicht glauben, dass des Kaisers eigener Mathematiker, der große Astronom Tycho Brahe, den Juden David Gans als Kollegen behandelt und in seinem Observatorium arbeiten lässt, dem modernsten in ganz Europa, oder dass Johannes Kepler, Brahes hochbegabter Gehilfe, sowie weitere Gebildete der Stadt die Kabbala lesen und erörtern. Hier in Prag führen Juden und Christen miteinander Streitgespräche über ketzerische Ideen wie die, dass die Planeten sich um die Sonne drehen, und sie werden nicht raschestens zum Widerruf gezwungen oder auf dem Marktplatz verbrannt – noch nicht. Aber Thaddeus hat seine grimmige Pflicht zu erfüllen. Er ist ein Gefäß, durch das die Leidenschaft für das, was er für die Wahrheit hält, in Sturzfluten braust. Wie Savonarola in Florenz, der einen Scheiterhaufen aus Kunstwerken errichtete, die ihm sinnlich und sittengefährdend schienen, der alle Renaissance-Gemälde verbrannte, deren er habhaft werden konnte. Thaddeus ist ein feuriger Redner, der eine Menge mit Leichtigkeit aufwiegelt. Menschen in Gruppen sind die Orgel, auf der er gern spielt. Vor allem ist sein Hass aufrichtig. Er sieht in den Juden eine Seuche, die durch Europa kriecht, wie zweihundertfünfzig Jahre zuvor den Juden die Pest zur Last gelegt worden war. Es ist eine geistige Pest, die er in Prag grassieren sieht. Gefährliches Denken ist die Seuche, die Seelen verdirbt.
Der öffentliche Disput wird an einem Sonntag vor einer riesigen Menge abgehalten. Judah muss versuchen, angesichts einer feindseligen und fanatischen Zuhörerschaft Stimmengleichheit zu wahren. Und genau das erreicht er um Haaresbreite, er kontert, er attackiert, aber er bricht den Angriff stets vor dem Sieg ab. Es ist ein langer Tanz in der Sonne des überfüllten Platzes, ein Tanz mit Schwertern und Feuer. Ein Tanz, der immer formeller wird, so dass die Menge sich zu zerstreuen beginnt, während der Maharal Thaddeus vom hohen