Er, Sie und Es. Marge Piercy

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Er, Sie und Es - Marge Piercy

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nicht geöffnet wurden. Gelegentliche Passanten waren lässig gekleidet: am Hals offene Hemden, Hosen, ein weiter Rock, Shorts, denn der Tag war der Jahreszeit entsprechend mild. Sie kam sich lächerlich vor in ihrem Y-S-Standardanzug, der inzwischen dreck- und rußverschmiert war. Ein Paar ging an ihr vorbei, sie unterhielten sich laut über irgendjemandes Mutter, ihre Stimmen tönten unbefangen. Hinter einer Hecke bellte ein Hund ein Kaninchen in einem Verschlag an. In kleinen Vorgärten staksten Hühner umher und in einem stolzierten gesprenkelte Truthähne. Ari wäre ganz aus dem Häuschen beim Anblick lebender Tiere. Die Gerüche überfielen sie: Tiergerüche, Gemüsegerüche, der Duft der gelben Tulpen, der schwerere Duft der Narzissen, Kochdüfte, der scharfe Dunst eines Misthaufens, der salzige Atem der See. Alles wirkte … ungeregelt. Wie unterernährt, wie verkümmert waren ihre Sinne in all diesen Y-S-Jahren. Wie kalt und träge kam ihr diese Konzern-Shira vor, als sie nun spürte, wie sie auftaute.

      Das Haus ihrer Kindheit: von der Straße her ein unerschütterliches, quadratisches Schindelhaus, zwei Stockwerke boten eine Reihe großer, unterteilter Fenster. Es hatte sein Geheimnis, nämlich dass es um einen Innenhof gebaut war wie die Synagoge, in die sie immer gegangen war, die mit Namen Wasserschul. Niemand vor dem einundzwanzigsten Jahrhundert hatte Blumen und Obstbäume, kleine Vögel und die schlichte Schönheit grüner Blätter jemals so geliebt wie die Menschen, die nach der Hungersnot lebten. Für die waren sie kostbar und selten und ständig gefährdet. Shira war nach der Hungersnot geboren, nachdem die steigenden Ozeane viele der Reis- und Brotkörbe der Welt unter sich begraben hatten, nachdem die steigenden Temperaturen die Meeres- und Luftströmungen verlagert und einstiges Ackerland in Wüste und Steppe verwandelt hatten, nachdem das Versiegen der Ölquellen der Agrarwirtschaft zu Lande ein Ende bereitet hatte; doch die Auswirkungen und Geschichten der Hungersnot hatten ihre Kindheit geprägt.

      Malkah wartete im Innenhof. »Ach Shira, endlich bist du zu Hause.«

      »Seit Ari geboren ist, wollte ich ihn hierherbringen, damit ihr euch kennenlernt. Jetzt bin ich hier, aber ohne meinen Sohn. Was hat das für einen Sinn?«

      »Zeit für dich, nach Hause zu kommen. Aber hier ist es gefährlich. Wir stehen unter Belagerung. Wir reden später darüber. Jetzt komm und lass dich in die Arme nehmen.«

      Malkah kam ihr kleiner vor, zerbrechlich und doch fest. Die gelbe Rose rankte sich immer noch an der Wand empor, im Innenhof standen immer noch Pfirsich- und Pflaumenbäume, wuchsen immer noch Weinstöcke und Kosmeen, Kürbis- und Tomatenpflanzen, fast ein Garten Eden. Shira hielt Malkah an sich gedrückt, ahnte die Stärke ihrer Großmutter, ihr Alter. Malkah war für sie immer alt gewesen, denn Malkah war eine bobe, und Großmütter waren alt, aber Shira wurde im Nachhinein klar, welch junge und außerordentlich vitale Großmutter Malkah gewesen war. Malkah war 1986 geboren, also musste sie jetzt zweiundsiebzig sein.

      Shira verspürte eine Erleichterung, als habe eine Spannung, die schon so lange andauerte, dass sie sie nicht einmal mehr als Spannung wahrgenommen hatte, plötzlich nachgelassen, als habe ein hoher Maschinensummton im Hintergrund plötzlich aufgehört, so dass eine selige und bestürzend reiche innere Stille sie durchströmte. Das war das Zuhause, dem sie entflohen war, nicht aus einer unglücklichen Kindheit, sondern aus einer zu frühen und zu heftigen Liebe, einem zerrissenen Paradies.

      5

Shira

      Vor fünfzehn Jahren: Der Tag des Alef

      Mit dreizehn hatte Shira leidenschaftlich und heimlich geliebt und war wiedergeliebt worden. Sie wusste aber auch, dass dies etwas war, was alle verurteilten und schlechtmachten – alle außer Gadi und ihr.

      Sie liebte nicht Gadi allein, nur ihn am glühendsten. Sie liebte auch ihre Großmutter Malkah und ihren großen, geschmeidigen braunen Kater Hermes. Hermes hatte zu ihr gehört, seit sie ihn als kleines Kätzchen in der Ödnis ausgesetzt gefunden hatte, wo er unweigerlich eingegangen wäre. Katzen waren nicht ans Überleben in der Ödnis angepasst. Er war wertvoll, denn die Stadt wurde von einer Mäuseplage heimgesucht. Mäusen und Mücken gefiel das Leben unter der Hülle. Er war für Shira kostbar, denn er liebte sie ohne Kritik, ohne Anspruch und ohne Ende. Malkahs Liebe war stark, aber rau, schrubbte sie sauber. Gadis Liebe trug Rosen und auch Dornen, wie die ausladende Kletterrose vor ihrem Schlafzimmerfenster, die sich an der Hofmauer bis zu ihr emporrankte.

      Ihre Großmutter hatte sie aufgezogen, so war es bei den Frauen ihrer Familie Brauch. Malkah erzählte ihr, wenn eine Frau ein Kind bekam, so blieb es bei ihrer Stammlinie. Männer kamen und gingen, aber sie sollte sich einprägen, dass ihr erstes Kind ihrer Mutter und ihr gehörte, nie dem Vater. Malkah sagte, Liebe sei hauptsächlich Unsinn und Selbsthypnose, und Männer seien im Großen und Ganzen ein Gewinn bei der Arbeit und ein Genuss im Bett, aber ansonsten erwarte nicht viel. Von ihr erwartete Malkah viel. Sie war die Tochter der Stammlinie.

      Shira wusste es besser. Mit dreizehn wusste sie viel mehr über die Liebe als Malkah. Malkah mochte sagen, Männer seien etwas Vorübergehendes, aber Gadi war es nicht. Gadi hatte zu ihr gehört, seit sie ihm in der zweiten Klasse begegnet war, als seine Familie nach Tikva zog. Gadi sagte, sie seien füreinander bestimmt. Andere Menschen irrten ihr ganzes Leben lang durch die Welt auf der Suche nach ihrem Zwilling, ihrem Geliebten, ihrem anderen Ich, das sie ergänzen und ihr tiefstes Verlangen stillen würde, doch Gadi und sie hatten einander so früh gefunden, dass sich niemand je zwischen sie schieben konnte. Dennoch war es nicht einfach, ihn so heftig zu lieben, wie sie es tat. Er war nicht einfach. Die Welt hielt sie für Kinder und weigerte sich, ihren Bund anzuerkennen – wurde er je sichtbar, waren sie in Schwierigkeiten. Nichts erlebten sie so intensiv wie die Zeiten, da sie sich bei den Händen fassten und in ihre eigene, private Welt stürzten. Sofort leuchteten die Farben. Sofort wurde die Helligkeit intensiver und die Dunkelheit lauerte finsterer und gruseliger und verlockender. Gefühle durchschauerten sie, süß und bitter wie die Pampelmusen, die jeden Winter mit dem Schiff aus South Carolina kamen.

      »Komm, wir verreisen«, sagte Gadi immer zu ihr, und Shira antwortete: »Dann komm.«

      Natürlich meinte er keine echten Reisen, obwohl sie vorhatten, um die ganze Welt zu fahren und unter dem Meer entlang und empor zu den Satellitenstädten. In Stimmies waren sie überall gewesen, aber Shira war eigensinnig: Was sie nicht in ihrem eigenen Körper getan hatte, das zählte nicht. In der Hinsicht war sie altmodisch, so hatte Malkah sie erzogen. Sie erkundeten nur ihre kleine Welt und gaukelten sich etwas vor.

      Doch das Vorgaukeln zusammen mit Gadi war für Shira realer als die Schule oder die Stimmies oder ihre eigenen Gedanken. In der Schule wechselten sie kaum ein Wort, denn sie hatten eine Körpersprache entwickelt, rasche Zeichen und Blicke, zu schnell, als dass andere sie verstehen konnten. Seit Shira halbwegs der Kindheit entwachsen war, schützten sie ihre Freundschaft durch Heimlichkeit. Jungen hatten mit Jungen zu spielen und Mädchen mit Mädchen. Von ihr erwartete man, dass sie am engsten mit einem Geschöpf aus ihrer Klasse befreundet war, wie Hannah, die unaufhörlich kicherte, oder Zee, die alles, was sie oder ihre Freundinnen taten, haarklein ihrer Mutter erzählte, blöde Kuh. Niemand hatte je gesagt, Gadi und Shira dürften sich nicht nah sein, weil es verboten war, aber sie lernten, auf die Blicke der anderen Acht zu geben, ihre Witze, ihre Sprüche, ihre Neugier, klebrig und beschmutzend. Sogar die, die es gut meinten, taten ihren Bund als niedlich oder vorübergehend ab.

      Jahrelang hatten sie nichts weiter verheimlicht, als dass sie gerne zusammen Karten spielten, Puzzles legten, sich Geschichten vorspielten von Heldentum und Rettung aus Gefahr. Es war wiederum nicht direkt verboten, fand aber auch keine Ermutigung, die verborgenen Ebenen der Stadt auszukundschaften, die alten, verlassenen Straßen, die leeren Häuser und Keller, die vergessenen Dachböden. Dort spielten sie sich ihre Dramen vor, ihre Träume, Geschichten aus den Stimmies. Jahrelang hatte Shira diesen magischen Kreis gehabt, in den beide sich einspinnen konnten, den Gadis Phantasie zum Leuchten brachte,

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