Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
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Ein zweiter Einwand hakt beim Begriff der Hochtechnologie ein mit dem bereits im ersten Buch (HTK I, 12f) erörterten Argument, die Höhe einer Technologie sei etwas Relatives. In der Tat mag einer künftigen Epoche das Niveau unseres technischen Arsenals und seiner Anwendungen einmal niedrig vorkommen. Auf medizinischem, generell biotechnischem Gebiet etwa hat die hochtechnologische Zukunft erst begonnen. So unbestreitbar das ist, muss es uns nicht daran hindern, die aus dem Sprachgebrauch der Gegenwart aufgegriffene Hightech- oder Hochtechnologie-Kategorie zum Begriff auszuarbeiten.3 Denn die Informationstechnologie hat einen qualitativen Niveausprung der Produktivkräfte ausgelöst, dessen Reichweite und verändernde Wirkung auf Basis, Überbau und Lebenswelt der Gesellschaften noch kaum absehbar sind. So wenig Marx sich den Computer vorzustellen vermochte, so wenig können wir Heutigen uns schon einen weiteren Produktivkraftsprung vorstellen, der die Entwicklung über das in der Breite und Vielfalt seiner künftigen Anwendungen und Umwälzungsfolgen noch unauslotbare Prinzip der mikroelektronisch gestützten und informationstechnisch erschlossenen Produktivkräfte hinausheben könnte.
3 Die im Vergleich zu Buch I veränderte Schreibung (statt ursprünglich »High-Tech« nun »Hightech«) trägt der zwischenzeitlichen Einbürgerung des Ausdrucks und seiner Schreibung in einem Wort Rechnung. So findet er sich nicht nur in Wikipedia, sondern auch auf der Internetseite des Bundesministeriums für Bildung und Fortschritt, wo die Bundesregierung erklärt, Ziel ihrer »Hightech-Strategie« sei es, »Deutschland zum Vorreiter bei der Lösung globaler Herausforderungen zu machen« <www.hightech-strategie.de/de/81.php>. »Vorreiter« steht für die Fähigkeit, die Konkurrenz der anderen Länder zu schlagen.
Wie in der Produktion die Arbeitsmittel in Wechselwirkung mit den Produktionsverhältnissen Epoche machen, so in der Geschichte der zwischennationalen politisch-ökonomischen Beziehungen die organisatorisch-kommunikativen Techniken und Apparate in Wechselwirkung mit den militärischen und politisch-kulturellen Kräfteverhältnissen. Die »informatischen ›Metamaschinen‹, die wir Computer nennen und die zur revolutionären Allgemeinmaschine geworden sind« (KV II, 169), haben nicht nur die Welt der Produktion, sondern auch den Weltmarkt, seine kapitalistischen Akteure, Verkehrsformen und Ordnungselemente umgepflügt. Die mit diesen Entwicklungen einhergehende tektonische Verschiebung der globalen Konkurrenz- und Kräfteverhältnisse wird nicht zuletzt mit technologischen Innovationen ausgefochten. Die Fragen von Hegemonie und Herrschaft, von Imperialismus oder Imperium stellen sich seither neu. Im Folgenden werden wir uns zunächst mit den hochtechnologisch basierten Bewegungsformen der Krise befassen, um uns dann den Veränderungen der inneren und äußeren Hegemonieverhältnisse der USA, sodann den Formen und Folgen des chinesischen Aufstiegs und schließlich der europäischen Krisendynamik zuzuwenden.
Ungeachtet dieser Abfolge geht es uns gerade um den Zusammenhang der Geschehensebenen. Da hierfür jenes Zusammenhangsdenken benötigt wird, das Theorie genannt wird, beschäftigen uns auf dem Weg durch die Ereignisfolgen immer auch die im Umlauf befindlichen und auf diese Realebene sich beziehenden Analysen und ihre theoretischen Konzepte. Wenn im ersten Teil geläufige Diagnosen wie »Finanzialisierung« oder »finanz(markt)getriebener Kapitalismus« auf den Prüfstand rücken, so im zweiten Teil der gramscianische Hegemoniebegriff in seinem Verhältnis zu Theorien imperialistischer vs. imperialer Herrschaft, wobei die Konkretisierung und Weiterbildung der damit zusammenhängenden Begrifflichkeit am Material eine der durchgängigen Linien bildet.
2. Was hat sich seit dem ersten Buch verändert?
Wenn in Zeiten weltgeschichtlicher Umwälzungen zu einem Gegenwartsthema im Abstand von einem knappen Jahrzehnt ein zweiter Band erscheint, ist ein Blick auf seither eingetretene Veränderungen fällig. Die Verschiebungen in den politisch-ökonomischen Weltverhältnissen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sind kaum weniger dramatisch als die 1989 vom Fall der Berliner Mauer besiegelten. Dieser Einschnitt schloss die erste Phase des aufsteigenden Hightech-Kapitalismus ab und leitete die Epoche der beschleunigten kapitalistischen Globalisierung ein, deren virtuelle Infrastruktur in den 1990er Jahren erdumspannend zusammenschoss. In Gestalt des Internet dient sie seither nicht nur der Wirtschaft und den Staaten, sondern begleitet den Alltag von Milliarden von Menschen.
Indem das Ausscheiden des staatssozialistischen Systemkonkurrenten die USA als einzige Supermacht übrig ließ, schuf es die Voraussetzung des Projekts eines »American Century«, für dessen militärisch akute Phase die Terrorakte vom 11. September 2001 das Signal gaben. Inzwischen ist die daraus hervorgegangene Politik des Griffs nach »Herrschaft ohne Hegemonie« unter George W. Bush gescheitert und hat einer Rückkehr zu einer Politik multilateraler Aushandlung Platz gemacht. Der Zusammenbruch des Finanzmarkts, der das militärische Fiasko der USA im Irak und in Afghanistan überlagerte, trieb die Verschiebungen unerbittlich voran. Der »Konsument letzter Instanz« laborierte am Rande zur Zahlungsunfähigkeit, und das noch immer mit großem Abstand mächtigste Land der Welt, dessen Präsidenten seit dem Zusammenbruch des Systemantagonisten immer zugleich eine informelle Weltpräsidentschaft zufällt, rang kraft der Obstruktionspolitik des republikanischen Extremismus mit innenpolitischer Lähmung. Auch die europäische Gemeinschaft taumelte in die von der Rezession unterlegte Hegemoniekrise. Der Widerspruch zwischen transnationaler Vereinheitlichung von Markt und Geld bei nationaler Zersplitterung von Wirtschafts- und Finanzpolitik stellte sie vor die Notwendigkeit eines nachholenden politischen Integrationsschubs bei Strafe des ökonomischen und politischen Auseinanderbrechens. Kaum beeindruckt von der Wirtschaftskrise, entwickelte sich der ostasiatische Wirtschaftsraum zum neuen Gravitationsfeld des Weltkapitalismus, mit China als dem »hauptsächlichen neuen Wachstumszentrum der Weltwirtschaft als solcher« (Gowan 2007, 169).
Explosiv gewachsen seit dem ersten Buch unserer Analysen zur hochtechnologischen Produktionsweise ist weltweit die Rolle der sozialen Netzwerke. Was das Ambient-Marketing nutzt (vgl. KdWÄ, 273f), nutzen auch die politisch Unzufriedenen, vor allem die Angehörigen derjenigen Generationen, denen in ihren besten Jahren der Kapitalismus kaum Perspektiven bietet. Während die Arbeiterbewegung, traditionell die wichtigste Kraft des sozialen Protests, zumindest im Westen noch immer geschwächt ist, nachdem der Umbruch der Produktionsweise und die Globalisierung die Kräfteverhältnisse zu ihren Ungunsten verändert hatten, ist dem Kapitalismus eine nach klassischen Kriterien schwer fassbare Hightech-Rebellion erstanden. Ihr Medium ist das Internet, in dem sich ihre Informations-Guerilleros wie Fische im Wasser bewegen und ihre Scharen sich durch die elektronische Buschtrommel zur Aktion zu rufen gelernt haben.
Emblematisch für eine andere Form netzbasierter Gegenmacht ist die 2006 ans Netz gegangene Enthüllungsplattform Wikileaks. Wenn die gemeinnützig betriebene Wikipedia mit ihrer netzgeborenen Kooperationsform, die auch vom kommerziellen »Crowd Sourcing« genutzt wird, Allgemeinwissen frei zur Verfügung stellt, so verteilt dieser Robin Hood des Netzes geheimen Informationsreichtum der Herrschaftsmächte an die Allgemeinheit. Er tut dies in ständigem Räuber-und-Gendarm-Spiel mit den Internet-Polizeien, die unterm Mantel der Verfolgung von Kinderpornographie und des Schutzes intellektueller Eigentumsrechte der Kontrolle des Netzes zustreben. Die Staatsgeheimnisse, die hier, solange sich im Netz noch Freiräume dafür finden lassen, ans Licht kommen, entstammen dem Archiv jenes verdeckten staatlichen Handelns, das in Walter Benjamin angesichts des Nazismus die Erkenntnis aufblitzen ließ, die »Tradition der Unterdrückten« belehre uns, »dass der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist« (GS I/2, 697). Die staatliche Nutzung der Informationstechnologie hat mit der digitalen Archivierung der gegenwartsnahen