Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
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11 »Mit dem künstlich überbewerteten Dollar kaufen Amerikas Konsumenten im Ausland ein, was das Zeug hält. Das US-Leistungsbilanzdefizit steigt auf 6 % der Wirtschaftsleistung.« (Fehr 2008)
12 Dies und das Folgende nach Fehr 2008.
13 »Über zusätzliche zweitrangige Hypothekenkredite (Home Equity Lines) ermöglichen es die Banken Haushalten, den erhöhten Wert des Eigenheims in Bargeld umzumünzen. […] Der kreditfinanzierte Konsumrausch grassiert, die Sparquote geht gegen null.« (Fehr 2008)
So schien die Immobilienblase die Explosionsfolgen der vorangegangenen Internetblase aufs Wunderbarste wettzumachen. Basierend auf der Doppelfunktion des US-Dollars, nicht nur als nationale Landeswährung, sondern zugleich als Weltwährung zu fungieren, wurden die US-Banken im Zeichen des »Dollar-Wallstreet-Regimes« (Gowan 2007, 156) zum ertragreichsten Wirtschaftssektor des Landes. Unter anderem bündelten sie Millionen von Hypotheken zu einer neuen Form handelbarer Wertpapiere, für die sie beim anlagesuchenden Finanzkapital aus aller Welt reißenden Absatz fanden. Zu sagen, dies sei »unbedrängt von staatlicher Kontrolle« (Kohler 2008) geschehen, verschließt die Augen vor der Komplizenschaft der Regierung, die dies durch ›Deregulierung‹ ermöglicht und die Banken schließlich geradezu bedrängt hatte, den Kreditrahmen auszuweiten. Kurz, die neoliberale Politik drückte mit der einen Hand die Lohnquote und förderte mit der anderen das Konsumniveau durch Konsumentenkredite. Wir kommen darauf bei der Frage nach den Charakteristika des in die Krise geratenen politisch-ökonomischen Systems zurück. Eben dieses Zentrum, mit der Londoner City im Gefolge, wurde zum Ort, an dem die Große Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise ausbrach.
Der Krach kam auf leisen Sohlen und durch die Haustür von Millionen US-amerikanischer Eigenheimbesitzer. Im Immobiliensektor, aus dem der Kredithandel eine derart einträgliche Geldquelle gemacht hatte, begann das System zu kränkeln. Bereits 2006 wurden in den USA 1,2 Millionen Häuser zwangsversteigert, 45 Prozent mehr als 2005 (FAZ, 14.3.07, 21). Bis dahin hatten billige Kredite die Hauspreise hochgetrieben und hatte der Kredit den Kredit genährt. Doch jetzt, als angesichts der Inflation die Leitzinsen hochgesetzt wurden und die Hypothekenzinsen stiegen, kamen viele Schuldner in Bedrängnis. Sofern sie nicht der Zwangsräumung zum Opfer fielen, kündigten sie scharenweise ihre Hypotheken, indem sie ihr Haus der Bank überließen und schließlich räumten. Die Hauspreise fingen an zu sinken. Der Immobilienmarkt brach ein. Damit kehrte sich das Wundergesetz um. Hatte bisher der Kredit den Kredit genährt, so nährte nun die Krise die Krise. Jeder Niedergang zog den nächsten nach sich. Zuerst schien der Einbruch sich auf den Sektor der zweitklassigen Schuldner (»Sub-Prime«) zu beschränken. Doch dann weitete er sich in Schüben vom Immobiliensektor des Kreditwesens aufs Kreditwesen des US-Finanzsektors insgesamt aus. Wenig später sprang die »Wallstreet-Krise« auf den Weltmarkt über und schwoll zur weltweiten Banken- und Finanzkrise an.
Mitte März 2008 brach Börsenpanik aus. »Das Vertrauen in die Weltleitwährung Dollar schwindet«, hieß es in der FAZ (Fehr), gefolgt von der bangen Erwartung, dies werde »vielleicht eines Tages in den Geschichtsbüchern als Symbol des Niedergangs der amerikanischen Hegemonie in Wirtschaft und Finanzen vermerkt werden« (Braunberger). Der Öffentlichkeit dämmerte, es mit der ersten Weltfinanzkrise zu tun zu haben. In den USA beherrschten Insolvenzen, Verstaatlichungen und Übernahmen den Bankensektor. In der Bundesrepublik brüstete sich der Finanzminister Peer Steinbrück noch, die deutschen Banken seien »robust«, während die Kanzlerin die strengere Regulierung des Finanzsektors ablehnte, um »dem Finanzplatz Deutschland nicht zu schaden«. Wie der Blitz schlug am 15. September die Nachricht vom Zusammenbruch der US-Bank Lehman Brothers ein. Nun war kein Halten mehr. Die Kreditkette riss zuerst in den USA, dem Erbhof des Weltkapitalismus und Sitz der Zentrale seines Finanzsystems, unmittelbar gefolgt von der Londoner City und den britischen Großbanken, aber auch von Island, dessen Banken zuletzt über Goldesel zu verfügen schienen.14 Der Krach sparte auch die Schweiz als einen der ›sicheren Häfen‹ des Finanzkapitals nicht aus. Ihre beiden Großbanken UBS und Crédit Suisse gerieten an den Rand des Zusammenbruchs. Unter wildestem Auf und Ab an den Börsen der Welt, begleitet von Bankenzusammenbrüchen und -übernahmen, hatte die Finanzkrise den Nexus der bürgerlichen Gesellschaft, das Geldsystem, an den Rand des Abgrunds geführt.
14 »Iceland adopted neoliberal financialization and speculation to the hilt and saw an excessive growth of its banking and finance sectors with total assets of its banks growing from 96 percent of its GDP at the end of 2000 to nine times its GDP in 2006« (Foster/Magdoff 2008; dt. 2009b, 28).
Die blinde Dialektik dieses Prozesses zeigt sich darin, dass es die vermeintliche Entschärfung des Risikos war, die das Risiko schließlich unkontrollierbar machte. Die Kreditgeber verteilten die unsicheren und ungesicherten Forderungen auf viele fremde Schultern. Sie bündelten ihre Darlehen zu handelbaren Wertpapieren, in denen alles Konkrete der Beziehung zwischen Schuldner und Gläubiger ausgelöscht und auf den einzigen Punkt reduziert war, dem Käufer des Kreditbündels eine bestimmte Verzinsung zu versprechen. Die Rating-Agenturen, Standard & Poor’s an der Spitze, versahen die Bündel mit Bestnoten. Die Banken, die solche lukrativen Pakete fast überall in der Welt begierig abkauften, schlossen Kreditausfall-Versicherungen ab (CDS), die ihrerseits gehandelt und so weiterverteilt werden konnten. Auf der Spur dieser weltweiten Streuung des Risikos mündete die Kettenreaktion der Finanzkrise in den Flächenbrand des globalen Finanzwesens. In ihrer abgeleiteten und handelbar gemachten Form hatten die Schuldenbündel plötzlich keinen Preis mehr, weil niemand mehr zwischen werthaltigen und wertlosen Schuldverschreibungen zu unterscheiden vermochte. Die Banken mussten die entsprechenden Activa in ihrer Bilanz auf null setzen. Stillstand des Ausleihverkehrs zwischen den Banken war die Folge. Weltweit erstarrte die Kreditvergabe.
Im August 2008 schätzte der Hedge-Fonds Bridgewater die Summe der gefährdeten Kredite auf 27 Billionen USD (SZ, 9.8.2008). Das war fast das Fünfhundertfache der geschätzten Zahlungsausfälle von sog. Sub-Prime-Schuldnern. Die Investitionsbanken hatten ihr Kapital mit einem Hebel von durchschnittlich 1 zu 24 eingesetzt, Bear-Stearns sogar im Verhältnis von 1 zu 35. In der Kontraktion wirkten die Kredithebel umgekehrt. »Für jeden Dollar, den sie mit Subprime-Papieren verlor, musste die typische Investmentbank […] andere Vermögenswerte im Wert von 24 Dollar verkaufen« (Eichengreen 2008). Jeder Notverkauf erzwingt in solchen Fällen weitere Notverkäufe. Nun brach eine jener Geldkrisen aus, von denen Marx in einem Zusatz zur 3. Auflage von Kapital I sagt, dass »deren Bewegungszentrum das Geld-Kapital ist, und daher Bank, Börse, Finanz ihre unmittelbare Sphäre« seien, während sie »auf Industrie und Handel nur rückschlagend« wirken (23/152, Fn. 99). Allerdings taten viele Industrien in den USA sich seit langem schwer, und der Welthandel produzierte ein immer größeres Ungleichgewicht. Der Boden in der Produktionsökonomie war also bereitet für einen jener schweren Einbrüche, bei denen in den Worten von Marx »auf entgegengesetzten Polen […] unbeschäftigtes Kapital auf der einen und unbeschäftigte Arbeiterbevölkerung auf der andren Seite« stehen (K III, 25/261). Im Sommer 2009 stand ein Drittel der US-Kapitalausrüstung still, während 17 Prozent der Arbeitskräfte entweder arbeitslos oder in Teilzeit beschäftigt waren, wenn sie es nicht überhaupt aufgegeben hatten, Arbeit zu suchen