Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug

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Hightech-Kapitalismus in der großen Krise - Wolfgang Fritz Haug

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verlieren machen«. Was Marx zu leisten beansprucht, ist die »Kritik der ökonomischen Kategorien oder […] das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt«, und zwar auf eine Weise, die »zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben« ist (29/550). Der Ansatz ist gesellschaftstheoretisch, nicht binnenökonomisch. Er umfasst zugleich die von den Menschen »zur Produktion ihres Lebens eingegangenen Verhältnisse«, für die Marx den Begriff Produktionsverhältnisse in die Sprache eingeführt hat, und die Bewusstseinsformen, die dem Verhalten in diesen Verhältnissen entspringen. In dem Maße, in dem zwar wir in den Verhältnissen, die Verhältnisse aber nicht in unserem Bewusstsein sind, ist letzteres, gemessen an der Analyse und im Hinblick auf den Gesamtzusammenhang, falsches Bewusstsein. Zur Kritik wird die Analyse also bereits, indem sie den Alltagsverstand seiner Täuschungen innewerden lässt. Zur Ideologiekritik wird sie, indem sie in den herrschenden Vorstellungen die Vorstellungen der Herrschenden aufweist oder Anspruch und Wirklichkeit miteinander konfrontiert. Wenn sie auf diese Weise parteilich wirkt, so ist sie nicht parteiisch. »Soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt«, schreibt Marx im Nachwort zur 2. Auflage von Kapital I (23/22), kann sie nur die lohnabhängig Arbeitenden vertreten, »das Proletariat«. In jenem Soweit-überhaupt drückt sich eine prinzipielle Distanz des Wissenschaftlers Marx zur Arbeiterbewegung und ihrer Politik aus, der er im Rahmen der Internationalen Arbeiter-Assoziation, der später so genannten Ersten Internationale, zugleich dient. Diese Distanz mit ihrer Ferne zu Agitation und Propaganda macht erst die nachhaltige Wirkung möglich, mit der uns das Werk von Marx immer wieder entgegentritt.

      »Man kann kaum umhin«, schrieb Ralf Dahrendorf 2001 – die Dot.com-Blase der Hightech-Spekulation war gerade geplatzt –, »an die dramatische Analyse im Kommunistischen Manifest von Marx und Engels zu erinnern.« Folgen wir dem Wink. Erstens zur Entwicklung der Technologie: »Die Bourgeoisie«, heißt es im Manifest, »kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.« (4/465) Und folglich: »Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen früheren aus.« (Ebd.)

      Zweitens zur globalen Expansion: »Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.« (Ebd.) Und folglich: »Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen hinweggezogen.« (466)

      Drittens zur Krisenhaftigkeit: Die »moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur noch die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse […]. In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern sogar der bereits erzeugten Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion.« (467f)

      Im Urteil des US-Amerikaners Marshall Berman ist das Manifest – außer allem anderen – »the first great modernist work of art« (1988, 102). Kein bürgerlicher Autor, kein Prokapitalist hat jemals die geschichtliche Produktivität des Kapitals so besungen wie Marx. Ganz recht, erwidert Robert Kurz und spaltet Marx auf in einen der Öffentlichkeit zugewandten und einen geheimen (vgl. Haug 2002). Der öffentliche oder »exoterische« sei gleichsam bewusstloser Agent der kapitalistischen Modernisierung; der geheime aber, der »esoterische«, weise die Welt des Kapitalismus total und pauschal zurück. – An diesem Aufspaltungsversuch kann man im Gegenzug deutlich machen, was die marxsche Kapitalismuskritik auszeichnet: Sie malt nicht schwarz-weiß. Produktivität und Destruktivität des Kapitalismus hängen nach ihrer Einsicht untrennbar zusammen. Sie arbeitet die grundsätzliche Widersprüchlichkeit heraus. Das zeigt sich bereits in den ersten Sätzen des Kapital, wo Marx den Doppelcharakter der Ware sowie den der warenproduzierenden Arbeit analysiert. Ein diesbezüglicher Kernsatz, der dem Alltagsverstand gegen den Strich geht, lautet: »Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedner Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedner Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert.« (52) Seine Analyse des »Doppelcharakters« der Waren produzierenden Arbeit, als konkret-nützliche Gebrauchswert zu bilden und als »produktive Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.« (23/58) oder »abstrakt menschliche Arbeit« Wert zu bilden (61), erklärt er zum »Springpunkt […], um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht« (58).

      Marx nimmt die falschen Einheiten des Alltagsverstandes auseinander, wie er zugleich dessen falsche Trennungen aufhebt. Er richtet besondere Aufmerksamkeit auf Übergänge. Er macht dies nicht nur beim Übergang von einer ökonomischen Kategorie zur anderen – etwa von der Ware zum Geld –, sondern achtet auch auf Keimformen und Potenziale des Übergangs zu einer anderen Organisationsform der Ökonomie. Er identifiziert »Elemente der neuen Gesellschaft im Schoße der alten« (vgl. HKWM 3, 251ff). Im Sinn für Widersprüche und Übergänge konkretisiert sich der dialektische Charakter seiner Arbeitsweise.

      Wer die Spannung solcher »Doppelcharaktere« nicht aushält und die Phänomene nach einer Seite hin reduziert, für den verdoppelt sich Marx wie bei Kurz in einen, der der einen Seite anhängt, und einen, der die andere Seite repräsentiert. Dieser verdoppelte und dadurch entdialektisierte Marx hätte uns nichts mehr zu sagen. Zum Glück ist er ein Hirngespinst. Der wirkliche Marx des Manifests und des Kapital, der die fundamentale Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Entwicklung analysiert, ist der noch immer aktuelle. Wir sind gut beraten, die radikale »Zwieschlächtigkeit« (Marx) der Phänomene im Auge zu behalten.

      Die Finanzkrise hat diese Herausforderung verschärft. »Der Geldmarktsmensch«, sagt Friedrich Engels, »sieht die Bewegung der Industrie und des Weltmarkts eben nur in der umkehrenden Widerspiegelung des Geld- und Effektenmarkts, und da wird für ihn die Wirkung zur Ursache.« (37/488) Dem Alltagsverstand verdoppelt sich das Kapital ins schlechte Finanzkapital und das gute Realkapital. Doch das Eine ist ohne das Andere nicht zu haben. Das heißt nicht, dass der Kampf um die Regulierung der Finanzmärkte nicht wichtig und momentan sogar vordringlich wäre. Nur muss man seine Grenzen kennen. Wenn die Finanzverhältnisse zur Ursache einer Krise werden können, so nur als bewirkte Ursache oder verursachende Wirkung des Gesamtprozesses der kapitalistischen Produktion.

      Das Problem hat die Struktur eines Krimis. Zuerst glaubt man den Fall schon gelöst. Die tief verwurzelten, von Politikern und Medien genährten Alltagsvorstellungen kreisen mehr oder weniger um den Gedanken, schiere Gier habe die Banker dazu getrieben, das in sie gesetzte Vertrauen zu missbrauchen. Gibt man sich damit nicht zufrieden, erkennt man bald falsche Fährten. Und gräbt Schicht um Schicht tiefer. Gier gilt seit der Antike als Laster, christlich als Todsünde. Vertrauen alias Glaube gilt traditionell als Kardinaltugend; allerdings wird vor Vertrauensseligkeit gewarnt. »Gier« und »Vertrauensverlust« sind die Kategorien, mit denen man uns das Wesen der Finanzkrise erklärte. Zum Beispiel führte der Chefökonom des IMF, Olivier Blanchard, alles hierauf zurück. Den Vertrauensverlust selbst leitete er vom Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers her. Die praktische Relevanz dieses Gedankens besteht darin, der Regierung Bush mit ihrer Entscheidung, Lehman Brothers nicht wie vor- und nachher so viele andere Banken mit Steuergeldern zu unterstützen, die Schuld an der Lähmung des Weltfinanzsystems zu geben.

      Extremfälle, wie sie die Finanzspekulation darbietet,

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