Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
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Dass die Finanzkrise im Weltzentrum des Kapitalismus, den USA, ihren Ausgang nahm, machte es unmöglich, sie wie ihre Vorgängerinnen auf die asiatischen und anderen Schwellenländer abzuschieben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Einfrieren der Kreditflüsse von der Finanzsphäre auf Industrie und Handel zurückschlagen und die Weltwirtschaft in eine allgemeine Krise stürzen würde. Der partiellen Vernichtung fiktiven Kapitals folgte die von industriell fungierendem Kapital mitsamt den an diesem hängenden Arbeitsplätzen auf dem Fuße.
2. Neoliberalismus – momentan »mit null multipliziert«
Momentan schien es, als hätte für Ideologie und Praxis des Neoliberalismus die letzte Stunde geschlagen. Nach den dreißig ›goldenen Jahren‹ des fordistischen Keynesianismus hatte er die darauf folgenden dreißig Jahre des Übergangs zum transnationalen Hightech-Kapitalismus beherrscht. Im Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen war zu lesen, der »amerikanische Kapitalismus« habe, »weitgehend unbedrängt von staatlicher Kontrolle, seine eigenen Selbstmordattentäter hervor[gebracht], deren Sprengsätze, die Derivate, selbst noch die Wirkung der fliegenden Bomben der Dschihadisten übertreffen. Nicht nur New York, die ganze Welt hat einen neuen ›Ground Zero‹16: Wallstreet.« (Kohler 2008) Stand eine Revolution vor der Tür? »Sieben Tage, die den Kapitalismus erschütterten«, überschrieb El País, die globale spanischsprachige Tageszeitung, ihre Wirtschaftsbeilage in Anspielung auf John Reeds Zeitzeugenbericht über die Oktoberrevolution von 1917. Kündigte sich der Zusammenbruch des Kapitalismus an? Für den neoliberalen Marktfundamentalismus jedenfalls war laut Joseph Stiglitz die Bankenkrise, »was für den Kommunismus der Fall der Berliner Mauer war« (16.9.08).
16 Zur Erinnerung: »Ground Zero« hieß in der Sprache der US-Armee das von ihr nuklear vernichtete Hiroshima. In einem Akt sprachlicher Opferenteignung übertrug man den Term nach 11/9 auf die Trümmerstätte der New Yorker Zwillingstürme.
Aus dem bürgerlichen Lager der Bundesrepublik hat einer der FAZ-Herausgeber, Frank Schirrmacher, dem Moment der politisch-ökonomischen Doppelkrise den schärfsten Ausdruck verliehen: »Was Aktienbesitzern jetzt schwant, dass sie nach Jahren der Akkumulation nichts mehr besitzen, gilt ebenso für unser Handeln und Denken.« (2008a) Zur Jahrhundertwende hatte er noch den mythischen Allmachtphantasien der »New Economy« rhetorischen Auftrieb gegeben, die Internet-Spekulationsblase geistig verdoppelt und die Goldgräberstimmung der Informationsrentensucher17 angeheizt (vgl. HTK I, 89ff). Doch nun, im Moment der Panik vom Herbst 2008, verzeichnete er wie ein Seismograph das Tiefenbeben, dessen Fernwirkungen anderswo noch nicht so deutlich registriert worden waren. »Während sich jetzt linksintellektuelle Milieus in den Katastrophen der bestehenden Ordnung bestätigt fühlen können und daraus Folgen für den Geschichtsverlauf ableiten, hat das deutsche Nachkriegsbürgertum, das sich in den großen Volksparteien sammelte, keine nennenswerte Utopie entwickelt, die über den US-amerikanischen Traum und das Urvertrauen in dessen demokratische Garantien hinausginge.«
17 Als »Informationsrente« begreift Roberto Verzola »eine spezifische Form der Mehrwertaneignung, begründet mit sog. intellektuellen Eigentumsrechten. Mikroelektronik und Digitalisierung haben die Bedeutung der Informationsrente explosiv gesteigert.« (Ralf Krämer, »Informationsrente«, HKWM 6/II, 1100)
Schirrmacher registrierte den »Entzug dieses Fluchtpunkts« als momentanen politischen Nihilismus. »Bush multipliziert uns mit null.« Als Linker hatte man die analoge Erfahrung gemacht, vom moralischen Ruin des Sozialismus politisch mit null multipliziert worden zu sein. Doch die Kapitalismuskritik und die Perspektive solidarischer Vergesellschaftung waren dadurch nicht ausgelöscht, während hier die Perspektive ausgelöscht schien. Es waren vor allem Reflexionen John Bergers aus Le Monde diplomatique vom Februar 2003 über den von der Regierung Bush praktizierten Machttypus, denen Schirrmacher sich unterm Eindruck der Krise nicht mehr verschließen mochte: »Jenseits der Ideologie«, hatte Berger über die USA geurteilt, »basiert ihre Macht auf zwei Drohungen. Die erste ist die Intervention aus dem Himmel durch den am stärksten bewaffneten Staat der Erde. Man kann es [nach dem Kürzel für den Langstreckenbomber der US-Luftwaffe] die Drohung B 52 nennen. Die zweite ist rücksichtslose Verschuldung, Bereitschaft zum Bankrott und, angesichts der Wirtschaftsbeziehungen in der Welt, dadurch ausgelöste Verarmung und Hunger. Man kann diese Drohung ›Drohung null‹ nennen.« Im Krisenherbst des Jahres 2008 sah nun Schirrmacher »die Phase der Null […] im Begriff, zu einem historischen Ereignis zu werden«. Was den bürgerlichen Liberalen bleibe und sich mit der staatssozialistischen Hypothek vergleichen lasse, sei »die beschämende Erfahrung der tiefen Untreue gegen uns selbst, das überwältigende Erlebnis der Ohnmacht«. In John Bergers Worten: »In den sich ständig wiederholenden Reden, Erklärungen, Pressekonferenzen und Drohungen sind die immer wiederkehrenden Begriffe Demokratie, Gerechtigkeit, Menschenrechte, Terrorismus. Jedes dieser Worte bedeutet in seinem Kontext exakt das Gegenteil, was es einst bedeutete. Jedes ist […] ein Mafia-Wort geworden, das der Menschheit gestohlen worden ist.«
3. Wiederkehr des Interventionsstaats
Der drohende Zusammenbruch schien quasi über Nacht zu bewirken, was keiner noch so scharfsinnigen Kritik gelungen war: einen Paradigmenwechsel im Verhältnis von Staat und Finanzkapital, ja schließlich von Staat und Wirtschaft schlechthin. Im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen sah man »das ideologische Pendel […] in atemberaubendem Tempo in Richtung eines Neoetatismus« schwingen (Plickert 2008). Staatsinterventionismus war über Nacht vom Schimpfwort zur rettenden Losung geworden. Die Politik, glaubte man, würde ihren Vorrang im Verhältnis zum Kapital zurückgewinnen. Nun wurde vielstimmig von der Reparatur, ja »Neugründung« (Sarkozy) des Kapitalismus geredet. Diese Rhetorik übersah, dass Kapitalismus, anders als jeder denkbare Sozialismus, keine Gründung, sondern »Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs« (v.Hayek 1967) ist. Das mögliche neue kapitalistische Akkumulationsregime konnte nur eine »historische Fundsache« sein, um es in der Sprache der Regulationsschule zu sagen. So ›fand‹ die deutsche Bundeskanzlerin, die noch am Vorabend der akuten Phase der Finanzkrise die strengere Regulierung des Finanzsektors abgelehnt hatte, gleichsam über Nacht wie die anderen Regierungen der Welt, dass die globalisierten Ströme und Kreditverschachtelungen des Finanzkapitals kontrolliert werden müssten. Die Akteure der Weltpolitik ›fanden‹ ferner, dass sie dazu eine globale Behörde brauchten. Vor der Öffentlichkeit mussten Präsident Bush und die Banker als Sündenböcke herhalten, um den Kapitalismus zu exkulpieren. Sie hatten es verbockt. Bush stand für Inkompetenz, die Banker für (allgemeinmenschliche) Gier. Bush wurde auf dem ersten Höhepunkt der Finanzkrise abgewählt, und die Banker? Sie sollten Geld vom Staat nehmen und dafür ihr Einkommen auf eine halbe Million Euro pro Jahr beschränken lassen. Selbst der Chef der Deutschen Bank drängte darauf, reguliert zu werden, und bekannte, »vom Saulus zum Paulus geworden« zu sein. Auf die neoliberale Globalisierung mit ihrer trinitarischen Formel Deregulierung18, Privatisierung, Marktfreiheit folgte tatsächlich nun zunächst die Verstaatlichung (der Verluste). Angekündigt wurde ein gewisses Regime globaler Regulierung. Das Tabu der Staatsverschuldung war gebrochen, Konjunkturprogramme rückten weltweit auf die Tagesordnung.
18 Die Rede von der »Deregulierung« ist allerdings irreführend, wie Leo Panitch (2011) gezeigt hat. Die wirkliche Frage lautet: welche Regulierung. Die USA haben das »regulierteste Finanzsystem« der Welt. »But that system is organized in such a way as to facilitate the financialization of capitalism, not only in the U.S. itself, but in fact around the world.« Ohne das wäre