Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
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Papst Benedikt wünschte dagegen, wir möchten in der weltweiten Finanzkrise die Vergänglichkeit alles Materiellen erkennen. »Mit dem Zusammenbrechen der großen Banken«, erklärte er, »sehen wir jetzt, dass Geld verschwindet – es ist nichts.« Er fuhr fort: »Wer auch immer sein Leben auf dieser Realität aufbaut, auf materiellen Dingen, auf Erfolg, der baut sein Haus auf Sand.« (Reuters, 6. Okt. 2008) Nur das Wort Gottes könne das Fundament für ein richtiges Leben bilden. Es fällt schwer, bei solchen Äußerungen der Versuchung zur Satire zu widerstehen. Doch hat der Vatikan uns in diesem Fall dieser Sorge enthoben. Denn ökonomisch mochte er offenbar nicht aufs Wort Gottes bauen. Eine Woche zuvor war durchgesickert, dass er »eine Tonne Gold gekauft«, in Rohstoffe investiert und dafür Aktien abgestoßen hatte. Es geht dabei immerhin um ein Kapitalvermögen, dessen ausgewiesener Teil 2007 einen Buchwert von 1,4 Milliarden Euro besaß.26
26 Davon Devisen: 340 Mio; Anleihen und Aktien 520 Mio; Immobilien 424 Mio. So laut The Tablet, wo man die offiziellen Zahlen von 2007 ausgewertet hat. (»Vatikan investiert verstärkt in Gold«, FAZ, 29.9.2008, 14)
Kategorien wie »Vertrauen« und »Gier« sind gesättigt mit alltäglicher Erfahrung und daher fest verankert in dem, was man etwas voreilig den gesunden Menschenverstand nennt. Sprechen wir mit Gramsci lieber vorsichtiger vom Alltagsverstand. Diesem möchte man Hamlets Worte vorhalten, als ihm der Geist seines ermordeten Vaters begegnet ist: »Es gibt zwischen Himmel und Erden mehr Dinge, als eure Schulweisheit sich träumen lässt.« Nur dass es hier um in Geld ausgedrückte Werte geht, also, wenn man so will, um die Geister toter Arbeit, Geld, das seine Besitzer für sich arbeiten lassen, damit es sich übernatürlich vermehre.
Ein bescheidenes Beispiel, um den Horizont unserer Schulweisheit zu testen: Die Außenstände der österreichischen Banken in Osteuropa entsprechen in etwa dem Bruttoinlandsprodukt Österreichs, das heißt, definitionsgemäß, dem Gesamtwert aller Güter (Waren und Dienstleistungen), die innerhalb eines Jahres in Österreich hergestellt worden sind. Nun müssen die Österreicher ja von diesen Produkten leben. Wie kann es sein, dass sie diese Produkte aufessen und auf sonstige Weise verbrauchen und zugleich ihren »Wert« weggeben? Nun gut, sie mögen zehn Jahre lang jeweils zehn Prozent der Erlöse gespart und nun verliehen haben. Um dem Problem etwas mehr von seinem wirklichen Gewicht zu geben, zitiere ich aus einem Brandbrief, den eine Gruppe ehemaliger EU-Kommissare und Regierungschefs am 19. Mai 2008 an den Präsidenten der europäischen Kommission gerichtet hat und den neben Jacques Delors nicht nur Helmut Schmidt, sondern sogar Otto Graf Lambsdorff, Urgestein des Wirtschaftsliberalismus, unterschrieben hat. Als das Problem der Probleme benennt der Brief die bisher in der EU herrschende Wirtschafts- und Finanzmarktpolitik, die »auf Unterregulierung, ungenügender Überwachung und Unterversorgung mit öffentlichen Gütern« basiert habe. Wer würde da widersprechen? Zumal im Moment studentischer Streiks für bessere Bildungsbedingungen. Auch Universität und freier Bildungszugang sind solche öffentlichen Güter. Und schließlich deuten Delors, Schmidt, Lambsdorff und andere auf das mysteriöse Ding zwischen Himmel und Erde, den alle Vorstellungen übersteigenden Kreditberg, den sie als fiktives Kapital bezeichnen, möglicherweise ohne zu wissen, dass Karl Marx diesem Begriff seine aktuelle Fassung gegeben hat: »Finanzanlagen repräsentieren nun das Fünfzehnfache des Bruttoinlandprodukts aller Länder.« Ihr Geldausdruck entsprach der Summe der Preise aller Produkte und Dienstleistungen, die die Menschheit in fünfzehn Jahren hervorgebracht und doch wohl auch größtenteils verzehrt hat? Erscheint uns hier der Geist des konsumierten Reichtums in der Gestalt von Finanzanlagen?
Mit dem »gesunden Verhältnis« des Geldes »zur Menge der produzierten Güter und Dienstleistungen«, von dem der vorhin zitierte FAZ-Autor träumte, kann es nicht weit her sein – und nicht erst seit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers.
4. Die Vorstellung vom »anständigen Kapitalismus« der »Realwirtschaft«
Alles […] Stehende verdampft
Karl Marx, Kommunistisches Manifest
Ohne weiter in den Wirkungszusammenhang einzudringen, der sich im Geisterbau des fiktiven Kapitals ausdrückt, beschworen Delors, Schmidt usw. die Rückkehr zum »anständigen Kapitalismus«. In dessen Bestimmung meint man ein leises Echo auf die Losung des Weltsozialforums, »die Welt ist keine Ware«, zu vernehmen: »Profitstreben ist das Wesen einer Marktwirtschaft. Doch wenn alles zum Verkauf steht, schmilzt der gesellschaftliche Zusammenhalt, und das System bricht zusammen.«
Gier, Spekulation und Kasinokapitalismus mit ihren jeden Bestand zum Verdampfen bringenden und heuschreckenartig alles Feste fressenden Akteuren haben uns dieser Erzählung zufolge in die Krise geführt. Aufatmend flüchten wir in die Welt der so genannten »Realwirtschaft«. Aber auch hier gibt das Problem keine Ruhe.27 Hat nicht der Realunternehmer Merkle sich vor den Zug geworfen, nachdem er seine Börsenwette gegen den Finanzchef des ebenso realwirtschaftlichen Porschekonzerns verloren hat? Oder was ist mit Porsches VW-Spekulation? Der amerikanische Finanzanalytiker Henry Plodget beschrieb jüngst General Electrics als »gigantischen Hedge-Fonds, der auch Kühlschränke herstellt«.28 Aber warum in die Ferne schweifen? Haben nicht schon vor Jahren Siemensleute ihren Konzern als eine Bank geschildert, die sich nebenbei auch noch eine Art Hobby-Werkstatt leiste? Wie Siemens jonglierte auch Volkswagen mit Milliardenbeträgen, um Währungsdifferenzen auszunutzen. BMW verzeichnete 2009 in der Automobilsparte einen Verlust von 265 Millionen Euro, während in der Sparte »Finanzdienstleistungen« 355 Millionen Euro Gewinn gemacht wurden. Was ist BMW? Eine profitable