Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
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27 Die auf Realwirtschaft setzen, »forget that speculation is a fundamental activity of capitalism, not an optional one« (Katz 2011).
28 »G[eneral]E[lectric] sendet Krisensignale«, Handelsblatt, 26.9.2008, 1
Der US-amerikanische marxistische Wirtschaftshistoriker Robert Brenner hält die – in der linken Theoriedebatte seit den 90er Jahren vorherrschende – »Idee eines finanzgeleiteten Kapitalismus« für einen »Widerspruch in sich«, weil die Finanzerträge außer beim Kundenkreditgeschäft »auf fortwährende Gewinnerzielung in der Realwirtschaft angewiesen« sind (2009, 7). Kapital kennt viele Formen. Als industrielles Anlagekapital verkörpert es sich in Produktionsmitteln. Diese haben auf den ersten Blick etwas Beruhigendes. Man kann sie ansehen. Wo sie sind, gibt es auch Arbeitsplätze. Doch die Beruhigung täuscht. »Das Wesen ist in die Funktionale gerutscht«, heißt es bei Brecht. Man kann Fabriken fotografieren oder Maschinen. Doch ihren Kapitalcharakter hat man damit nicht aufgenommen. So wenig wie man Lohnarbeit als solche in einem Schnappschuss festhalten kann. Man kann nur Menschen fotografieren, die konkrete Arbeitstätigkeiten ausführen. Die gesellschaftliche Form der Arbeit, Lohnarbeit zu sein, sieht man allenfalls in Spuren, und wenn, dann nur, weil man bereits weiß, dass sie die gesellschaftlich herrschende Form ist.
Gleichwohl ist das Finanzkapital noch beunruhigender. Im Ausdruck »finanzielle Dienstleistung« spüren wir den Euphemismus: Allenfalls Selbstbedienung auf dem Wege der Fremdbedienung ist hier das ungeschriebene Gesetz. Jeder ist unter den gegebenen Verhältnissen sich selbst der Nächste. Wer sich darüber entrüstet, vergisst, dass dies genau genommen auch für jeden Brotfabrikanten, überhaupt für alle kapitalistische Realökonomie gilt, bloß dass es hier, wo nur Geldverhältnisse im Spiel sind, besonders krass hervortritt. In diesem Sinne sind alle Kapitalunternehmen »Selbstbedienungsläden«. Sie »dienen« der allgemeinen Bedürfnisbefriedigung nur in dem Maße, wie es ihnen selber dient. Was da wirklich für Dienste geleistet werden, ist eine Frage der Kräfteverhältnisse zwischen derart »Dienenden« und »Bedienten«, Kräfteverhältnisse, die sich, wie Nicos Poulantzas sagt, im Staat »verdichten« (vgl. Wissel 2010, 1948). Dies einmal von Grund auf begriffen, büßt Peter Gowans umstandslose Absage an die Annahme, dass »Veränderungen der sog. Realwirtschaft sich auf einen vermeintlichen finanziellen Überbau auswirken« (2009, 5), ihren Sinn ein. Dass der finanzielle Überbau sich selbst zu bedienen strebt, enthebt ihn nicht des Überbaustatus.
Der Finanzmarkt muss als Moment des kapitalistischen Gesamtprozesses untersucht werden, aus dem er herauswächst und dem er seine Kreditvehikel zur Verfügung stellt – oder sie ihm vorenthält, wie in der Krisenphase der Stockung des Kapitalflusses zwischen den Banken. Die ›Banker‹ als solche sind nicht die Verursacher der Krise.29 Wahr ist allerdings, dass der Finanzmarkt und sein Lieblingskind, das fiktive Kapital, nicht als Effekt der »Realökonomie« betrachtet werden dürften, würde man unter Realökonomie die Gebrauchswertseite der Wirtschaft verstehen. Denn wenn es unmöglich ist, »von den verschiednen Menschenracen direkt zum Bankier oder von der Natur zur Dampfmaschine« überzugehen (42/183f), so auch vom Gebrauchswert zu den Finanzverhältnissen. Wenn aber »Realökonomie« den realen Prozess der kapitalistischen Produktion bezeichnet, wenn man also die Verwertungsbeziehungen als zur Realität gehörend, ja mehr noch, als das Real-Herrschende begreift, dem mehr Realität zukommt als den beherrschten Gebrauchswerten, dann sind die Finanzmarktbewegungen tatsächlich Ausdruck der wirklichen Ökonomie und der ihr entspringenden Interessegegensätze und -konvergenzen. Denn die Gebrauchswertwirtschaft ist nicht die wirkliche Ökonomie. Sie ist deren passives Material, das nur insofern durchschlägt, als es in seiner stofflichen Materialität vorgibt, was sich mit ihm machen lässt. Eher könnte man sagen, dass der real herrschende Kapitalismus die für alle gesellschaftlichen Formen naturnotwendige Gebrauchswertwirtschaft als Geisel genommen hat.
29 Claudio Katz überzieht allerdings das Argument der systemischen Funktionalität der Finanzakteure: »Far from introducing a distortion into contemporary capitalism, they have acted according to the needs of this mode of production.« (2011) Er blendet aus, dass diese Produktionsweise vor sich selbst, ihren immanenten »needs«, beschützt werden muss. Dies als Staatsaufgabe begriffen zu haben, macht die Stärke der von Katz kritisierten Neokeynesianer aus. Er kritisiert sie von einem metaphysischen Standpunkt, wenn er es zum »principle« erklärt, »that the state is not an entity that serves the common good but is an organ of protection of the ruling class« (ebd.). Mit diesem Entweder-Oder sieht er nicht, dass der parlamentarisch-demokratische Staat ein umkämpftes Terrain und seine Politik das Ergebnis von Kräfteverhältnissen ist.
5. Omnipräsenz der Spekulation im Kapitalismus (I)
»Spekulation« ist »Mystik für den Verstand«
Karl Jaspers, Philosophie, 3, Met., 135
Allem kapitalistischen Handeln wohnt ein Moment von Spekulation inne. Für die Betrachtung kann es zurücktreten hinter den konkreten Herstellungsprozessen und ihren anlagemäßigen und persönlichen Verkörperungen. Doch insofern diese Prozesse markt- und gewinnorientiert sind, gilt allemal: »Wer spekuliert, versucht sein Glück mit dem Fetischcharakter der Ware Kapital. Das Machwerk, das Macht über die es Machenden hat (KV I, XI.5) und dessen Bewegung sich zwar aus ihrem Handeln speist, aber gegen dieses sich verselbständigt, erlaubt die Wette auf seine nächste Oszillation.« (KV II, 180)
Aber natürlich ist einer, dessen Handeln ein spekulatives Moment innewohnt, deshalb noch lange kein Spekulant im umgangssprachlichen Sinn. Hat es also nicht wenigstens einen Sinn, die »Spekulanten« zu verurteilen? Auf diese Frage lassen sich Antworten auf zwei Ebenen suchen. Die erste geht uns leichter ein, weil Wirtschaftspolitik angebbare Akteure und damit auch ›Schuldige‹ kennt, während die zweite Antwort systemisch ist und wir uns mit unserem moralischen Verlangen nach persönlich zurechenbarer Schuld schwer tun. Halten wir uns also zunächst an die Ebene der Politik. Hier stoßen wir, zumal bei der Hauptmacht des Kapitalismus, den USA, auf die wirtschaftspolitische Bemühung, »der unzureichenden Nachfrage durch die Förderung vermehrter Kreditaufnahme zu begegnen – im öffentlichen wie im privaten Bereich«. Robert Brenner, der so spricht (2009, 6), hebt hervor, dass bereits unter Clinton »private Verschuldung die Rolle [übernahm], die zuvor der öffentliche Kredit gespielt hatte. An die Stelle des traditionellen Keynesianismus trat etwas, was man ›Vermögenspreis-Keynesianismus‹ nennen könnte.« (Ebd.) »Keynesianismus« ist er freilich nur mehr in einem vulgarisierten Verständnis, da »Keynes zwar nachfragepolitisch gefördertes Wachstum befürwortete, aber die wesentliche Einschränkung machte, dass dies nur solange Sinn hätte, als damit noch merkliche Wohlstandssteigerungen zu erreichen sind. Auf längere Sicht hielt er hingegen die Stagnation für unausweichlich und damit auch eine Umorientierung weg vom Wachstum hin zu kürzeren Arbeitszeiten« (Zinn 2008c, 39).30 Bei der konjunkturpolitisch ausgenutzten Börsenblase dagegen dienen die momentanen Kurse von Wertpapieren sowie die Hauspreise als Basis für Konsumentenkredite. In der Folge ist die Konsumnachfrage »mehr denn je vom Auf und Ab der Kurse bestimmt« (Katz 2011). Unter der Präsidentschaft George W. Bushs hatte sich daran nur insofern etwas geändert, als nun auch der Staat auf Pump lebte, schon um zwei Kriege finanzieren zu können, ohne auf Steuergeschenke an die Reichen verzichten zu müssen. Nach dem Platzen der Dot.com-Blase zu Beginn des Jahrhunderts stützte der ›Vermögenspreis-Keynesianismus‹ der Konsumentenkredite sich einseitig auf den Immobilienmarkt. Dass einige Staaten