Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
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Stoßen Kapital und die zu seiner Unterstützung aufgebotene staatliche Wirtschaftspolitik auf diese Grenze, kompensieren demokratische Regierungen das Marktversagen durch allerlei Erfindungen, solange ihnen der finanzielle Spielraum bleibt. Ich-AG und Ein-Euro-Jobs sind noch in Erinnerung, und auch die Erfindung der Null-Kurzarbeit, mit der im Verein mit der Abwrackprämie die Deutschen bei der Stange gehalten wurden, verdient bei allem Bedrohlichen die fröhliche Kritik derer, die darin die Hilflosigkeit ihrer Oberen erkennen.
Die Fröhlichkeit endet, wenn in der Staatsschuldenkrise auch solche Manöver an der Grenze des Kapitalismus auf ihre Grenzen stoßen. Im marxschen Manifest heißt es: »Es tritt hiermit offen hervor, dass die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden. Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d.h., ihr Leben ist nicht mehr verträglich mit der Gesellschaft« (4/473). Dass die Kapitalistenklasse das Proletariat »ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden«, ist die das Denken in die Gänge bringende rhetorische Überspitzung eines realen Widerspruchs. Im Ganzen unmöglich, ja absurd, macht sich diese Notwendigkeit doch immer wieder partiell geltend. Allerdings springt nicht die Kapitalistenklasse ein, sondern der Staat, und dieser schließt zuvor alle Lohnarbeitenden in einer Zwangsversicherung gegen die Notlage der Arbeitslosigkeit zusammen, um aus deren Kassen dann zumindest einen Teil des Proletariats zu ernähren, statt von ihm ernährt zu werden – Politik an den Grenzen des Kapitalismus. Bis dann dieser Politik der Geldhahn Stück um Stück zugedreht wird und das den »Langzeitarbeitslosen« gewährte, von vornherein kümmerliche Überlebensgeld beschnitten wird. In der Bundesrepublik betrifft dies an die zehn Prozent der Bevölkerung, denn inzwischen stecken hier 6,7 Millionen Hartz-IV-Empfänger und ihre Familien »dauerhaft im Hartz-IV-System fest« (Heitmeyer 2010, 19). Als in der Großen Krise die südeuropäischen Länder begannen, am Rande des Staatsbankrotts zu lavieren, erfasste die Verarmung die Bevölkerungsmehrheit. In solchen Situationen bricht eine Zeit an, in der das gesellschaftliche Leben chaotisch an der Grenze des Kapitalismus aufläuft. Es stockt vor der notwendenden Möglichkeit, dass die Gesellschaft ihre Lebens- und Überlebensbedingungen dem Kapital als regelndes Gesetz aufherrsche. Widrigenfalls droht es zurückzufluten in Autoritarismus, wenn die manifeste Ohnmacht demokratischer Regierungen von deren Wählerschaft als die eigene erfahren und mit dem Wunsch nach dem Starken Mann und der Harten Hand kompensiert wird. Auf der anderen Seite der Grenze liegt die terra incognita, wo zu erwarten ist, dass die assoziierten Gesellschaftsmitglieder die Besorgung des für sie Notwendigen ohne Dazwischenkunft fetischistischer Mächte in die eigenen Hände genommen hätten.
Drittes Kapitel
Was ist neu an dieser Krise?
1. Was genau ist in Krise geraten?
Wir beginnen mit einer Frage, die sich zunächst selbst zu beantworten schien, sodass »niemand sie zu stellen für nötig hielt«.37 An einer Krise Maß zu nehmen, ihre Dynamiken und die von ihr bedingten Handlungsmöglichkeiten auszuloten, setzt Klarheit über die Formation voraus, die da in Krise geraten ist. Mit ihrer historischen Neuartigkeit erst tritt die Materialität der Zeit in den Blick. Ohne diese Klärung wird man Entwicklungsphasen, die in allen Epochen auftreten, fürs Wesen der aktuellen Formationsbestimmtheit halten.
37 »…no-one bothered to utter it: What exactly is this a crisis of?« (Geoff Mann 2010, 174).
Die Antworten auf die Frage, was da eigentlich in Krise geraten ist, fließen in der Regel als nicht eigens begründete Benennungen ein. Ganz vorsichtig ist Karl-Heinz Roth, wenn er von der »ersten Weltwirtschaftskrise des 21. Jahrhunderts« (2009, 10) spricht. Das besagt nichts über die Sache selbst. Dagegen erklärt ein Dokument von Attac: »Es handelt sich dabei um eine Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, der auf spekulativen Blasen beruht« (2011c). Das läuft auf die gewiss vernünftig klingende Perspektive hinaus, die Finanzmärkte auf eine Weise zu regulieren, die spekulative Blasen verhindere. Aber erstens sind Blasen in der Finanzgeschichte seit Jahrhunderten bekannt. Und zweitens bleibt es bei Symptombehandlung, solange wir die Prozesse ignorieren, deren Effekt die Dominanz der Finanzmärkte ist. Die These von deren Verselbständigung dichtet sich gegen die auf den ersten Blick paradox sich ausnehmende Möglichkeit ab, dass ihre anscheinende Verselbständigung etwas Unselbständiges ist, in dem sich Zusammenhänge ausdrücken, die nicht selbst schon wieder finanzieller Natur sind. So lässt sich die Macht der Finanzmärkte als Resultat einer Interessenkoalition beschreiben, in welcher das Finanzkapital mit dem Industriekapital an einem Strang zieht.38
38 »Der Finanzkapitalismus stellt ein Regime dar, in dem das gemeinsame politische Interesse von Real- und Finanzkapital an einer Schwächung von Gewerkschaften und Sozialstaat einen größeren Stellenwert hat als der Gegensatz ihrer Interessen.« (Schulmeister 2010, 29)
In diese einseitig ökonomische Diskussion bricht Wolfgang Streeck, dem sie ökonomistisch oder ›finanzistisch‹ hätte erscheinen können, mit seiner historisierten und sozial dynamisierten, die Nähe zu den Phänomenen suchenden Version einer institutionalistischen Betrachtung des Kapitalismus als konkreter Gesellschaft ein.39 Seine Diagnose verortet das Problem auf der politisch-ökonomischen Ebene, nun aber im sonst abgeschliffenen Wortsinn der Beziehung zwischen Politik und Ökonomie, genauer zwischen parlamentarischer Regierungsform und kapitalistischer Betriebsweise oder zwischen gesellschaftlicher Selbstbestimmung und kapitalistischer Vergesellschaftung. In der Frage der »Institutionalisierung von sozialer Ordnung oder Gouvernanz als solcher im Kapitalismus als einem sozialen und ökonomischen System« (2010, 10) identifiziert er eine strukturelle Inkohärenz,40 deren tektonische Basisspannung sich seit dem Niedergang des Fordismus, also seit der Strukturkrise der 1970er Jahre, in wechselnden Konfliktarenen entladen hat. Was Streeck nun vollends in Krise geraten sieht, ist nicht der Kapitalismus als solcher, sondern der »demokratische Kapitalismus«. Kurz, die aus dem Kollaps des US-amerikanischen Finanzsystems resultierende globale Krise müsse begriffen werden »im Rahmen der vor sich gehenden, inhärent konfliktiven Transformation der Gesellschaftsformation, die wir ›demokratischer Kapitalismus‹ nennen« (Streeck 2011, 5). Allgemein gesprochen, stößt in dieser Formation der demokratisch sich artikulierende Anspruch auf ein gutes Leben unversöhnlich zusammen mit dem die Kapitalsphäre leitenden Anspruch aufs ungehinderte Profitstreben. Streeck schildert den Zusammenstoß als analog zum Konflikt zwischen den Rechtsansprüchen der Arbeitskraftkäufer und denen der Arbeitskraftverkäufer. Marx hat ihn im Kapital folgendermaßen zusammengefasst: »Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt.« (K I, 249) Es ist, als wollte Streeck durch die Anspielung auf die marxsche Antinomie zu verstehen geben, dass im aktuellen Antagonismus wieder die Gewalt, sprich etwas in der Art des Faschismus lauerte. Diese Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, zumal dann nicht, wenn Streeck Recht hat, dass es auf Dauer schlechterdings keine Versöhnung zwischen Demokratie und Kapital, zwischen den einander widersprechenden Prinzipien der sozialen Rechte und den vom Markt beurteilten Gewinnmaximierungsstrategien des Kapitals geben kann.