Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
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Als Luxemburgs Akkumulationsbuch erschien (1913), war Papiergeld noch durch Gold gedeckt. Indem dieses für die Wertsubstanz des Geldes einstand, war dieses System letztlich auf von Banken gebündelte Ersparnisse angewiesen. Die Aufhebung der Golddeckung zunächst vorübergehend im Ersten Weltkrieg und schließlich, nach weiteren Wechselfällen, definitiv zu Beginn der 1970er Jahre emanzipierte mit dem Geld den Kredit von der Wertsubstanz. Die seither erfolgte Explosion der Kreditinstrumente und –derivate aller Art konnte die Grenzen der Kapitalakkumulation immer wieder hinausschieben. Doch den schließlichen Ausbruch der Krise konnte sie nur verzögern, und die Nebenwirkungen dieser Medikamente bilden ebenso viele neue Krisenpotenziale. Im Manifest beschreibt Marx, noch ohne schon die Feinanalyse des Krisenmechanismus geleistet zu haben und erst recht ohne Kenntnis der neuen Finanzinstrumente, die Folgen dieses Widerspruchs zweiter Ordnung: »Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung der alten Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.« (4/468)
Im Kapital geht es dann vollends zur Sache. Hier wird der Boden, auf dem die Finanzkrise erwächst, begrifflich ausgemessen: Überproduktion von Kapital treibt immer mehr Geldkapital zur Anlage in Papiere, die handelbare »Ansprüche des Eigentums auf die Arbeit« (25/493), genauer gesagt: Rechtsansprüche auf künftiges Mehrarbeitsprodukt darstellen. Wenn ein periodischer Zahlungsanspruch (Miete oder andere Zinsen) gehandelt wird, errechnet sich sein Preis durch »Kapitalisierung«. Damit ist gemeint, dass berechnet wird, wie groß ein Kapital bei gegebener durchschnittlicher Ertragslage sein müsste, um genau diesen Ertrag abzuwerfen. Im Unterschied zum Einsatz von Realkapital in Gestalt sachlicher und persönlicher Produktionsfaktoren handelt es sich hier um fiktives Kapital. Fiktiv ist es, weil es nur einen selber produktionslosen Anspruch auf eine regelmäßige Zahlung ist, die ihrerseits ebensowenig der Produktion entspringt. In seiner Verknüpfung von Geld und mehr Geld über ein zeitliches Intervall hinweg bildet es nur ein Kapital-Analogon. Wird der Kurs solcher Aneignungsansprüche durch die Vermehrung anlagesuchenden Geldes nach oben getrieben, was, weil Kursgewinne winken, wiederum den Antrieb zur Anlage steigert, bläht das fiktive Kapital sich auf. Vervielfacht durch den Kredit, den es auf seine spekulativen Objekte zieht, beschäftigt anlagesuchendes Geldkapital sich gleichsam so lange mit sich selbst – bis die Kapitalfiktion platzt.
7. Omnipräsenz der Spekulation im Kapitalismus (II)
Der Kurs oder Anlagepreis in Relation zu antizipierter Veränderung ist das eigentliche Objekt der Spekulation. Über Kurse entscheiden, aufgrund bestimmter Erwartungen, die Fluktuationen von Angebot und Nachfrage. Die Subjekte ›spielen‹ dabei eine entscheidende Rolle, aber nicht individuell, sondern als Feld, auch nicht intersubjektiv, interaktiv, sondern interdependent. Sie verhandeln nicht darüber, sondern belauern einander. Das gilt auch und erst recht, wenn das Feld entscheidend von aggregierten Kapitalanlegern in Gestalt der Fonds bestimmt ist.
Handelt das Feld aufgrund einer Situationsbewertung so oder so, vernichtet es auch schon den bestimmten Ausgangswert, und zwar immer in der unterstellten Richtung. Die Spekulation ist unablässig dabei, die Differenz, von der sie sich nährt, aufzuzehren. Wird aufgrund der entgegengesetzten Erwartung mehrheitlich gekauft, ist der Preis immer schon gestiegen. Will das Feld mehrheitlich verkaufen, weil der Preis im Vergleich zum erwarteten Einbruch für noch günstig gehalten wird, ist der Preis auch schon gefallen. Die vorpreschenden Einzelfälle, bei denen die ursprüngliche Rechnung noch aufgeht, sind Teil des Anstoßes, der die massenhafte Wiederholung des Glückens durch andere entsprechend reduziert.
Ausschlaggebend fürs Verhalten des Marktteilnehmers ist also nicht eigentlich der Kurs, sondern das von ihm erwartete Kauf- und Verkaufsverhalten der anderen. Er wird kaufen, wenn er erwartet, dass sie kaufen, und verkaufen, wenn er erwartet, dass sie verkaufen. Er wird vertrauen, wenn er darauf vertraut, dass sie vertrauen. Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Es geht darum, das Feldverhalten zu antizipieren, um einen Vorteil daraus zu ziehen.
Denken, Verhalten und Verhältnisse schließen sich hier zu einem Rückkoppelungszusammenhang. Das Handeln fällt ins Objekt. Irgendwann schlägt dann das Irreale oder Real-Imaginäre dieser erwarteten Erwartungen oder begehrten Begierden, das von den stofflich investierten Kapitalprozessen an der langen Leine geführt wird, in die Krise um. Dies macht die Börse für Friedrich von Hayek zur »Parabel für seine Gesellschaftstheorie« (Seuß 1980), und wir könnten bescheidener sagen: zu einem Gleichnis für den Markt überhaupt. Nur dass bei der Börse alles vergrößert und wie im Zeitraffer erfolgt, während sich die Rückkoppelung beim Markt produzierter und reproduzierbarer Güter normalerweise unvergleichlich langsamer auswirkt, weil sie nicht nur durch die Produktionszeit hindurch muss, sondern zusätzlich durch die Zirkulationszeit, womöglich sogar durch die Zeit der Umrüstung von Anlagekapital. In der Krise kann der lähmende Rückschlag aufs industrielle und Handelsgeschehen dann aber fast augenblicklich – in Gestalt der Panik – erfolgen.
Trotz ihres eigenen Zeitregimes spiegelt die Börse, auch wenn sie ›verrückt spielt‹, den normalen Gang einer Prozessstruktur, die sich immer erst nachträglich, über ihre Resultate reguliert. Und wie das Geld, der abstrakte Reichtum, schließlich doch immer wieder zurück muss zum konkreten Reichtum, zieht es den Börsenverlauf, so surreal er sich gebärdet, endlich immer wieder zurück an den handfest-industriellen Verwertungsprozess des Kapitals. Wenn aber die Börsenkrise zurückschlägt auf den Gesamtprozess und mitten im überquellenden Reichtum die Not der allgemeinen Wirtschaftskrise über die Gesellschaft hereinbricht, zeigt sich ihr Surreales als das Herz der Realwirtschaft. Das Oszillieren ist nur die Form, in welcher der planlose Plan aller privat-arbeitsteiligen Produktion sich bewegt. Darin, dass dem Überfluss an Reichtum der allgemeine Mangel entspringt, drückt sich die »Plusmacherei« als Selbstzweck aus. In mehr oder weniger blinden Konvulsionen vernichtet das System, was es stört: überschüssiges Kapital und damit auch die »Überkapazität« Brenners. Dabei zerstört es Habe, Heimat und Lebenschancen der Völker, verwandelt sie, mit dem Wort von Ricardo, in »redundant population«, »überflüssige Arbeiterpopulation«,36 und betrügt zumal die Jugend um ihre Zukunft.
36 »Es ist eins der großen Verdienste Ricardos, die Maschinerie nicht nur als Produktionsmittel von Waren, sondern auch von ›redundant population‹ begriffen zu haben.« (Marx, K I, 23/430, Fn. 154) Im Haupttext setzt Marx »überflüssige Arbeiterpopulation« (ebd.). Kautsky fügt in der Fußnote in eckigen Klammern »überschüssige Bevölkerung« ein (Volksausgabe, Hamburg 1914, 351).
8. Ein Blick über die Grenze des Kapitalismus
Selbst wenn tatsächlich »ein anderer Kapitalismus« das Maximum des in absehbarer Zeit Erreichbaren darstellen sollte, ist dieses doch nur zu erreichen, wenn über die Grenzen des Kapitalismus hinausgegangen wird. Sowohl in der Praxis als auch – weiter ausgreifend – in der Theorie. Marx kann klärend dazu beitragen, dass das Hinaus über den Kapitalismus nicht in ein bewusstloses Zurück umschlägt. Unsere Regierenden laborieren längst an den Grenzen des Kapitalismus. Sie tun es angesichts dessen, was Marx die »ergänzende Erscheinung« der Kapital-Überproduktion bzw. Überakkumulation nennt, nämlich der wachsenden Masse »unbeschäftigter Arbeiterbevölkerung« (25/261).
Ist Kapitalüberproduktion eine im engsten Sinn systemimmanente Störungsquelle, so die Erzeugung von Massenarbeitslosigkeit, ja die Erzeugung von auf Dauer »überflüssiger« Bevölkerung eine, die geeignet ist, kapitalistische Gesellschaften von innen auszuhöhlen und die Bedingungen für die Möglichkeit demokratischer Regierung zu untergraben. Werfen wir einen Blick auf diesen Effekt: Steigt die Produktivität durch Entwicklung der sachlichen