Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete. Albrecht Gralle

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Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete - Albrecht Gralle

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      „Aber die Knecht und Mägd sind nit da. Und wenn das Gwitter kömmt, sind meine Kirsch zerhagelt und zerquetscht. Denk an den schön Kirschwein, den ich dir zubereiten werd!“

      „Bin itzo dabei, den Katechismus noch mal durchzukneten. Das ist wichtiger als alle Kirsch der Welt. Und: Wie soll ich alter und schwerer Mann die Leiter nauf? Wo ist der Bub?“

      „Der ist mit dem Michel weg.“

      „Ja, da soll doch der Donner …“

      „Vergiss dich nit. Du hast’s mir in die Hand …“

      Brummend trat Luther zur Seite, murmelte: „Ja, Herr Käthe“, legte die Feder auf einen Lederlappen und schimpfte: „Sonst ist das Haus voller Gäst, Studenten und Verwandtschaft, und heut ist alles leer wie ein Bauch, aus dem der letzte Furz entwichen ist. Man kömmt zu keiner Arbeit mehr!“

      Immer noch missmutig ging er die Stufen hinunter, verließ das Haus, steckte den Saum seiner schwarzen Kutte in den Gürtel, so dass seine Knie frei wurden, und holte die alte Holzleiter. Katharina ging währenddessen mit großen, unweiblichen Schritten vor ihm her in den von ihr angelegten Obstgarten.

      Vor den zwei Kirschbäumen blieb sie stehen. „Den Korb bindest an die Leiter, somit hast zween Händ frei.“

      Luther fügte sich in sein Schicksal. Er wusste aus Erfahrung, dass es keinen Zweck hatte, sich in diesem Stadium zu verweigern.

      Dass die Frauen so einen unbändigen Willen haben, dachte er. Beißen sich fest wie hungrige Hund, wenn sie einen mal gepackt haben. Dabei sollte das Weib doch eine Gehilfin des Mannes sein und nicht umgekehrt!

      Er lehnte die Leiter gegen einen kräftigen Ast und rüttelte daran, um zu sehen, ob sie auch hielt. Dabei fiel ihm wieder das hebräische Wort in Genesis zwei ein, das er mit „Gehilfin“ übersetzt hatte: „Äsär“.

      Seitdem er die Übersetzung der ganzen Heiligen Schrift abgeschlossen hatte, stiegen immer wieder Bibelworte an die Oberfläche, wie Fische, die nach Mücken schnappten. Man kam mit dieser Übersetzung nicht zur Ruhe. Auch nach zehn Jahren nicht! Luther fragte sich gelegentlich, ob er wirklich die richtigen Worte getroffen hatte. Gut, der hebräische Text redete in der Schöpfungsgeschichte zwar von einem Helfer oder einer Hilfe und von einem Gegenüber, das Gott für den Adam schaffen wollte, aber Luther fand es unpassend, den Frauen das Wort „Hilfe“ zu geben, so ein großes Wort, das man sonst für Gott in den Psalmen verwandte: „Gott, mein Helfer, rette mich!“ Nein, das musste man anders übersetzen. Außerdem hatte es eine maskuline Endung. Wahrscheinlich ein Fehler beim Abschreiben. Der hebräische Text übertrieb hier maßlos. Man durfte nicht einfach stumpfsinnig Wort für Wort übersetzen, sondern musste auch die Umstände berücksichtigen. Darum hatte er in Genesis statt: eine Hilfe, ihm gegenüber, lieber eine Gehilfin, die um ihn sei, übersetzt. Das war zeitgemäßer. Aber seine Käthe entwickelte sich eher zu einem Gegenüber als zu einer Gehilfin.

      „Was grübelst du denn?“, rief Katharina von Weitem. „Die Leiter angelehnt und nauf!“

      Luther seufzte und spürte wieder die Müdigkeit, die in der Bibliothek aufgekommen war. Sie lag bleiern und schwer in seinen Gliedern. Aber trotzdem nahm er einen der Körbe und kletterte langsam nach oben. Es war grotesk. Er, Doktor Martinus Luther, der Mann, der die Kirche in den Grundfesten erschüttert hatte, zu dem Gelehrte von weit her kamen, musste sich der Bitte einer entlaufenen Nonne fügen und Kirschen pflücken! Aber andererseits gab es das Vergnügen, das Bett mit diesem Weib zu teilen. Und bei ihren Bitten, das musste man ihr lassen, kam am Ende immer etwas Nützliches heraus, auch für ihn.

      Aber es war mühselig, das Kirschenpflücken. Seit den letzten Jahren, seit er die sechzig überschritten hatte, machte ihn sein Bauch behäbiger und schwerfälliger. Und die Gelenke plagten ihn auch. Doch es half nichts. Käthe hatte beschlossen, vor dem Gewitter heute Kirschen zu ernten, und so stieg Luther Sprosse um Sprosse höher. Oben angekommen, band er, wie es seine praktisch denkende Frau gesagt hatte, den Korb mit einem Seil an der obersten Sprosse fest.

      Der Himmel bezog sich immer rascher mit Wolken, und ein kühler Wind kam auf. Aber jetzt wollte der Doktor nicht schon wieder nach unten steigen, die Zweige hingen voller Kirschen, man brauchte nur zuzupacken. Und so pflückte Luther eine Hand voll ab und probierte sie: süß und fest. Ja, das würde einen guten Kirschwein geben. Zweig um Zweig pflückte er leer und dachte darüber nach, wie er das Wort, das er in der Paradiesgeschichte bisher mit „Rippe“ übersetzt hatte, hätte anders ausdrücken können. Vielleicht wäre „Seite“ doch besser gewesen. Rippe aber klang greifbarer, biegsamer und war auch halb rund wie die Hüften einer Frau. Gott schuf die Frau aus der Rippe ihres Mannes. Oder doch besser aus der Seite? Seltsam! Dann bestand ja Adam aus Staub und Chawa, oder Eva, aus Menschenfleisch. Was hatte sich Gott eigentlich dabei gedacht? Oder ging es am Ende gar nicht um die Erschaffung, sondern nur darum, was die zwei in ihrem Wesen nach waren? Ging es hier um grundsätzliche Aussagen zwischen Mann und Weib? Nein, nein, das klang zu philosophisch. Das würde eine Tiefe in die Worte legen, die so gar nicht gemeint war. Oder doch?

      „Es ist ein Jammer, dass man mit Übersetzungen nie zu einem End kömmt, selbst wenn die Bibel schon lang fertig g’stellet ist!“

      Luther blickte nach oben. Das Licht wurde blasser, der Wind kräftiger, und der theologische Kirschpflücker verstand jetzt, warum seine Frau ihn so gedrängt hatte.

      Vorsichtig band er den vollen Korb los, kletterte damit hinunter, leerte die Kirschen in den anderen Korb, lehnte die Leiter an einer anderen Stelle an und stieg wieder nach oben.

      Mitten in der Bewegung hielt er inne. War da nicht eben ein Wassertropfen gewesen? Tatsächlich! Und jetzt jagte ein Blitz über den Himmel. So einen großen hatte er noch nie gesehen, und gleich danach rumpelte und donnerte es gewaltig.

      „Ich muss nunter!“, murmelte er. Aber es war zu spät. Ein neuer Blitz hatte sich ausgerechnet den Kirschbaum ausgesucht, schlug ein und streifte Luthers Kopf. Und er meinte, bevor er wegdämmerte, dass er ganz langsam fiel. Dann wurde alles schwarz.

      Er wusste später nicht mehr, ob er kurz oder lang in dieser Nacht gelegen hatte. Aber er spürte jetzt seinen Körper, zwang sich, die Augen aufzumachen, und merkte, dass es Nacht war.

      „Ein seltsam Ding, dass mich mein Käthe hier hat liegen lassen wie ein Haufen Abfall. Das sieht ihr so gar nit ähnlich, dass sie ihren Brummbär hat vergessen.“

      Mühsam kam er wieder auf die Beine, sah die Umrisse eines Hauses, ein paar Bäume und erleuchtete Fenster. Es kam ihm vor, als ob drinnen Hunderte von Öllampen stünden. So hell war es. Und weiter hinten rauschte es, als ob ein Fluss vorbeiströmte. Nur passte es nicht recht zusammen, denn von dem Strom ging Licht aus. „Ob gar die Stern vom Himmel gfalln sein?“, überlegte der Doktor, „und die Welt an ihr End kommen ist?“

      Seine Kutte steckte immer noch im Gürtel. Er zog die Enden heraus, ging langsam auf die hellen Fenster zu und wunderte sich, dass das Gebäude gar nicht wie das ehemalige Augustinerkloster aussah. Viel kleiner. Und es standen noch mehr Häuser daneben. Das sah er jetzt erst, denn in den anderen brannte kein Licht.

      Er hörte eine Glocke und lauschte: elf Schläge. Also war es elf Uhr in der Nacht. So lange hatte er unter dem Kirschbaum gelegen?

      Inzwischen hatte er das Haus erreicht und näherte sich dem Fenster.

      Es sah aus wie eine Tür aus Glas, und es war so klar, dass er jede Einzelheit dahinter sehen konnte.

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