Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete. Albrecht Gralle
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Читать онлайн книгу Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete - Albrecht Gralle страница 4
Luther schaute genauer auf die bunte Scheibe und sah kleine Männer in abgeschnittenen Hosen über eine Wiese laufen. Ab und zu flog ein Ball durch die Luft.
„Ein magisch Ding, ein Zauberspiegel“, flüsterte Luther. „Wo bin ich nur hinkommen?“ Ein dumpfes Gefühl breitete sich in seinem Magen aus.
Der Mann auf dem Polster war zweifellos ein Mensch, aber seltsam gekleidet. Die Einrichtung: grell.
Leise zog sich Luther von der Terrasse zurück und ging um das Haus herum. Er sagte sich, dass er erst genauer sehen wollte, wo er eigentlich war, um mit diesen bunten Menschen zu reden.
Unter einem Dach ohne Wände stand ein glänzendes Etwas auf vier Rädern, wie eine zusammengepresste Kutsche. Denn im Inneren, so viel konnte Luther gerade noch erkennen, waren Sitze angebracht. Aber es gab keine Riemen oder Stricke, mit denen man die kleine Kutsche an Pferde anbinden konnte.
Und ein Stall war auch nicht in der Nähe. Es roch auch nicht nach Pferden. In dieser niedrigen Kutsche war das Glas so klar, dass man es fast übersah.
Das Rauschen jenseits des Hauses war jetzt stärker geworden, und als Luther sich von dem Gebäude entfernte und dem Geräusch nachging, kam er zu einer Brücke, die sich über eine breite Straße schwang.
Er traute seinen Augen nicht, denn dort, auf der Straße, die in der Mitte gestrichelt war, huschten diese kleinen Kutschen vorbei in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Vorne kam ein gelbes Licht heraus und hinten ein rotes.
Aber das Erstaunliche bestand darin, dass die Kutschen ohne Pferde fuhren. Ohnehin hätte kein Pferd je solche Schnelligkeit erreicht.
Luther atmete schwer, und ihm fiel ein, was er einmal bei Kopernikus gelesen hatte. Der hatte behauptet, die Welt sei eine Kugel und würde sich um die Sonne drehen. Sie sei aber so groß und hätte so eine große Anziehungskraft, dass die Menschen dachten, sie befänden sich auf einer Scheibe. Und es sollte viele solcher Kugeln geben, die frei durch den Raum schwebten.
Wenn er, Luther, nun auf so einer anderen Kugel gelandet war? Wenn die Kraft dieses Blitzes ihn durch den Himmel geschleudert hatte? Oder waren diese bunten Menschen womöglich Engel? Befand er sich im Himmel?
Nein, das konnte nicht sein. Sagte nicht die Heilige Schrift, dass es dort niemals Nacht würde?
Wie komme ich nur wieder zu meiner Käthe zurück? Ihm tat es nachträglich leid, dass er so unwillig gewesen war mit dem Kirschenpflücken.
Jetzt war er einmal um das Haus herumgekommen. Es hatte zumindest ein schräges Dach, so wie die Häuser in Wittenberg.
„Luther“, sagte er zu sich, „du musst jetzt hell denken, sonst wird dir noch dein Arsch g’stohlen, und dann sieht’s bös aus.“
Er fühlte mit einem Mal wieder diese große Müdigkeit und erinnerte sich an die Sitze in der Kutsche ohne Pferde. Wenn er sich dort ein wenig ausruhen könnte, bis es Morgen wurde …
Er ging wieder zu dem Schuppen ohne Wände und probierte an der Kutsche, ob er eine Tür aufbekam, aber die Türgriffe konnte man nicht nach unten drücken. Endlich bewegte sich der eine Griff zu ihm hin, und die Tür ging tatsächlich auf. Es roch nach etwas, das er noch nie gerochen hatte, aber das war ihm jetzt gleichgültig. Er streckte sich auf der Rückbank aus, machte leise die Tür zu und schlief ein.
Die Morgensonne, die schräg in die gepresste Kutsche schien, weckte ihn auf. Ein paar Augenblicke brauchte er, bis er sich wieder zurechtfand und sich daran erinnerte, dass er bei dem Gewitter in eine Art Zauberland versetzt worden war und sich hier zum Schlafen gelegt hatte.
Gedämpft durch die Scheiben hörte er das frühe Gezwitscher der Vögel.
Nun, immerhin etwas, das er kannte.
Er richtete sich gähnend auf und schaute sich um. Durch die Glasscheiben sah er die Hauswand und, weiter vorne, einen Teil des Gartens.
Es dauerte eine Weile, bis er herausgefunden hatte, wie die Tür aufging.
Dann stand er draußen und ging auf die Wiese.
Das Grundstück war von Gebüschen und einem weißen Zaun umgeben, und es gab daneben noch ein Haus. Alles war sehr sauber und ordentlich gebaut.
„Was soll ich tun?“, überlegte Luther. „Am besten, ich klopf an und frag die Leut.“
Er klopfte. Nichts rührte sich.
Gab es vielleicht einen Klingelzug, an dem man ziehen konnte? Nein, den gab es nicht, aber er fand einen Knopf. Darüber stand: Familie Brückner. Als er daraufdrückte, hallte eine Klingel durch das Haus. Beeindruckend. Er klingelte noch einmal, und diesmal etwas länger.
Da hörte er Schritte. Jemand in einer weißen Kutte kam die Treppe herunter. Das konnte er alles durch dieses wunderbare Glas sehen.
Es war eine Frau. Sie hatte die Haare nachlässig nach oben gesteckt, und man konnte ihre nackten Waden sehen. Außerdem war sie sehr groß. Vor der Tür blieb sie stehen und starrte Luther stirnrunzelnd an, was ihr gar nicht stand.
Sie machte die Tür einen kleinen Spalt auf. Luther hörte eine Kette klirren.
„Was wollen Sie denn so früh?“, krächzte sie. „Es ist halb sechs! Und wer sind Sie überhaupt?“
Es kam Luther seltsam vor, dass er wie eine Frau angeredet wurde. Eine seltsame Grammatik. Und müsste es nicht heißen: Was will sie überhaupt? Aber immerhin sprach die Frau eine Art Deutsch. Luther neigte den Kopf und sagte: „Gott zum Gruß. Ich bitt um Verzeihung. Hab wohl früh geklopfet, aber kannst du mir sagen, wo ich mich befind? Martinus Luther werd ich genannt, Doktor der Theologie aus Wittenberg, wohn im schwarzen Kloster.“
Die Frau schloss die Augen, und Luther hörte, wie sie etwas murmelte, das sich wie „als Eimer“ und „Residenz“ anhörte, dann sagte sie laut und langsam: „Aha! Sie sind also der Luther und haben die Bibel übersetzt, was? Die Kutte steht Ihnen immerhin.“
Luther blickte die Frau erstaunt an. Woher wusste sie das mit der Bibelübersetzung? Und er sagte erstaunt: „Ganz recht. Bin grad dabei, die Genesis nochmal durchzupflügen und …“
„Ja, das hab ich mir schon gedacht, dass Sie so was machen, bei dem Namen.“ Sie gähnte. „Dann gehen Sie mal ein paar Häuser weiter, da ist ein großes Haus. Da gibt es extra ein Zimmer für Sie. Vielleicht treffen Sie auf … wie heißen diese Burschen? Calvin und Zwingli.“
Luther musste sie wohl völlig entgeistert angestarrt haben, denn sie entschloss sich jetzt, die Tür ganz aufzumachen. Offensichtlich dachte sie, der Mann sei harmlos.
Sie schlüpfte in ein paar Schuhe, zog die weiße Kutte fester um die Schultern, kam vor die Tür und sagte: „Kommen Sie mal mit. Ich bringe Sie hin.“
Luther war erstaunt, dass Zwingli und Calvin hier gleich in der Nachbarschaft